In der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá, die hierzulande für viele sicher ein unentdeckter Ort ist, scheint es eine lebhafte Musikszene zu geben, in der passionierte Nerds mit großer Virtuosität und geringem Respekt vor Kultur- und Genregrenzen so ziemlich alles channeln, das nicht bei drei auf den Bäumen ist: die Verwegenheit des klassischen Rock’n'Roll, Rhythmen und Instrumente aus südamerikanischer Populärmusik, die Radikalität von Hardcore und Metal, cartoonhafte Pulp Fiction, augenzwinkernder Exotismus quasi aus der Innenperspektive, Okkultes und schalkhafter Spuk.
Seit Jahren existiert vor Ort eine größere Community an Musikern, die stets in verschiedenen Konstellationen auftreten und dem launigen Mix an Motiven immer wieder neue Facetten entlocken: Meridian Brothers, Romperayo, Frente Cumbiero und Ondatropica heißen einige der Acts, überregional bekannt ist Chúpame el dedo, die vor kurzem ein grandioses Grindwavelatino-Album zu Ehren des Leibhaftigen über Souk und Discrepant herausgebracht haben. Aus Musikern all dieser Bands setzt sich die neuste Supergroup Los Pirañas zusammen, die ein für allemal definieren, was zeitloser, diabolischer Rock’n'Roll aus den Anden ist.
Die Musik der Pirañas ist rein instrumental gehalten, und das war sicher ein Grund, warum ich bei ihrem dritten Album „Historia Natural“ öfter an den Surfrock von Link Wray denken musste. Doch ihre retrofuturistische Mixtur aus Rock, Salsa, Cumbia, Jazz und vielen anderen Inhaltsstoffen hat noch viel mehr an Assoziationen zu bieten. Mit wummerndem Bass, klapperndem Metall und dem Pointillismus einer an Texmex erinnernden Gitarre sind gleich alle drei Musiker präsent und demonstrieren gleich drei Hauptmerkmale der Musik: Tolle Melodien, ein luftiges, minimalistisches Soundbild von rauer Materialität und ein ungemein tanzbarer Groove, der im punkigen Stakkato von „Infama Golpazo“ wie ein Parademarsch mit Taschensaxophon anmutet. Der Bläsersound ist wohl elektronischen Ursprungs und sorgt mit seinen nicht immer stromlinienförmigen Melodien nicht nur hier für eine Brise verspielten Humors.
Wer mit den Drums, die immer mal in blecherne Perkussion kippen, und der anarchischen Sprunghaftigkeit klar kommt, findet auf „Historia Natural“ einige Ohrwürmer mit Suchtpotential: Das unglaublich hypnotisierende „Espiritu de los seres humanos“, das klingt, als hätte es als futuristische Wavenummer in den 80ern auf die Welt kommen sollen, „Todos tenomos hogar“, das sich vom spacigen Dub in eine wunderschöne 50s-Schnulze verwandelt und das darauffolgende Surfrockstück „Palermo’s Grunch“ sind nur die herausragendsten Beispiele. Los Pirañas hätten zusammen mit den seligen Heroin in Tahiti auftreten sollen, wobei egal gewesen wäre, wer für wen eröffnet hätte.
Die Elektronik ist bei der Fusion aus z.T. Traditionellen Musikarten nicht nur für gelegentliche Bläsereinlagen zuständig, sondern liefert oft fast unbemerkt den Kitt zwischen den einzelnen Komponenten oder sorgt für die angemessene Verfremdung des Gitarrensounds. Auch dies passt zur Aussage der Band, das „Historia Natural“ eine nostalgische Platte voller Jugenderinnerungen ist, aber auch den Erfahrungsschatz späterer Zeiten in sich trägt. (U.S.)
Label: Glitterbeat