Über die mystischen Schulen des Sufismus haben sich Elemente alter religiöser Kulte auch im Islam ihren Fortbestand gewahrt. In Marokko, genauer in dem kleinen Ort Jajouka oder Joujouka an den Hängen des Rif-Gebirgres, wird zum Ende des Ramadam ein mehrstündiges Ritual zu Ehren des mythischen Tänzers Bou Jeloud durchgeführt, einer gottgleichen Gestalt, die wegen ihrer Ziegen-Attribute bereits mit dem griechischen Pan in Verbindung gebracht wurde. Das Ritual reicht weit in vormonotheistische Zeiten zurück und beinhaltet musikalische Darbietungen, bei denen neben Gesängen zahlreiche Saiten-, Blas- und Perkussions-Instrumente für eine entgrenzte, ekstatische Stimmung sorgen. Ein Vergleich mit den rituellen Pferdetänzen und der dazugehörenden Musik in West-Java wäre interessant und könnte einmal mehr den archetypischen Aspekt solcher Kulte unterstreichen.
Es stand zu erwarten, dass die Subkulturen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit ihrem Verlangen nach ungekannter Spiritualität und ihrem Interesse an fremden Kulturen irgendwann auf diese Musik aufmerksam werden sollten. Angefangen von Beatniks (Burrows, Gysin, Bowles) bis hin zu Rock- und Undergroundgrößen wie Brian Jones, Ornette Coleman, Marianne Faithful oder Jane’s Addiction haben westliche Künstler die lokalen Sufi-Musiker kontaktiert, die fortan als Master Musicians Of Jajouka bekannt werden sollten – oder eben mit dem Zusatz, dass der Bandleader Bachir Attar heißt, als es zu einer Aufsplittung und quasi Verdopplung der Gruppe kam. Diese Inkarnation suchte Produzent Bill Laswell Anfang der 90er auf und schnitt eine der legendären Performances mit, die dann, kurz nachdem die Master Musicians auch in Cronenbergs Naked Lunch-Verfilmung zu hören waren, als “Apocalypse Across the Sky” erschien.
Bei den schrillen schalmaiartigen Bläsern und den ekstatischen Trommeln des ersten Stücks wird einmal mehr bewusst, wie sehr sich rituelle Musik anderer Kulturkreise vom feierlichen Pathos der meisten ihrer westlichen Formen unterscheiden kann: Die vorliegende Musik beginnt ungemein ausgelassen und erinnert an etwas räudigere Interpretationen von Tanzstücken wie dem Saltarello – und ganz nebenbei daran, wie vergleichsweise nah sich westliche und “orientalische” Alte Musik bis in die frühe Neuzeit noch standen. Solche Passagen, bei denen die Flöte schon mal die Intensität einer Alarmsirene bekommen kann, tauchen immer wieder auf, bei anderen steht ähnlich ekstatischer Gesang im Zentrum. Hier werden in Call- und Response-Gesängen zwischen Solisten und Chören repetitive, aber gleichsam mitreisende Melodien geformt, die den auf verschiedenen Saiteninstrumenten wie der Gimbri gespielten Tonfolgen in nichts nachstehen. Gelegentlich scheint der Solist im Chor aufzugehen, ragt aber bald wie eine Welle aus dem Meer der anderen Sänger wieder auf.
Verbindendes Element zwischen den einzelnen Strücken ist meist der einfache, aber extrem ins Bein gehende Rhythmus der handdrums, der sich in jede melodische Struktur einfügt. Doch gibt es auch weniger treibende Momente, am stärksten in “El Mehdahy”, dessen verwunschen durch die karge Landschaft wehenden Flöten schon den Score von Tarsem Singhs Film The Cell bereicherten. “Apocalypse Across the Sky” ist jüngst erstmals auf LP erschienen.
Label: Zehra