Wenn die Sommersonne im östlichen Teil der USA, vor allem in den Neuengland-Staaten, im Herbst noch einmal ihr Recht einfordert und Licht durch die längst braungefärbten Blätter fluten lässt und das Land in der frühen Abenddämmerun rot färbt, spricht man landläufig vom Indian Summer. Die beiden Paradisiers, die wohl mit dieser Bedeutung spielen, da einer von ihnen in der Region zuhause ist, nehmen den Begriff wörtlich, denn auf ihrem so betitelten neuen Album besingen sie damit eine imaginäre Reise auf den indischen Subkontinent. Einen ganzen Sommer lang ließen sie das Land, seine Menschen, Dinge, Geister und mehr auf sich wirken.
Unter dem Namen Les Paradisiers firmieren seit gut zehn Jahren kein Geringerer als Demian Recio von Ô Paradis und Thomas Nöla, der solo und in zahlreichen Konstellationen musiziert, wenn er sich nicht gerade im Medium Film austobt. Im Medium einer hybriden Musik irgendwo zwischen chansonhaftem Songwriterpop und psychedelisch dröhnender Experimente suchen sie in unterschiedlichen Ecken der Welt das Paradies, das nicht existiert. So zumindest beschreiben sie selbst ihr raison d’etre als Band, und mir scheinen die Worte nicht zufällig gewählt: Im Unterschied zum künstlichen oder imaginären Paradies klingt hier das verlorene, nie erreichbare in all seiner ent-täuschenden Gestalt viel deutlicher an. Meines Erachtens entspricht das auch der Musik, die neben dem sehnsüchtigen, vielleicht idealisierenden Moment auch etwas abgeklärtes, kaputtes offenbart. Für den imaginären Trip in ein “exotisches” Indien ist das vielleicht keine schlechte Ausgangshaltung.
Das eröffnende “The Ghat” stößt einen geradewegs in die Mitte des Geschehens, genauer an die Uferböschungen des Ganges, wo rituelle Waschungen vorgenommen werden, die hallunterlegte, landestypische Dröhnung lässt bis zum tremolierenden Schluss eine feierliche Welt entstehen. Auf dem Wellen des Flusses, dessen Verlauf bis Bangladesh von Demian in sehnsüchtigen Worten besungen wird, beginnt die eigentliche Reise, und wer nur das sanfte Plätschern vernimmt, dem ist die wusselige Unterströhmung entgangen, die in der subtilen Unordnung der Musik ihre Entsprechung findet.
Diese Mischung aus paradiesischer Fremdheit und abgeklärt stimmender Brechungen findet sich überall in diesem schwülheißen Sommer. In “Ballad of the Great Goan Train Robbery” lässt Nölas melancholischer Gesang fast einen amerikanischen Roadmovie über kräftigen Drones lebendig werden, in dem Schnödes, Profanes seine langen Schatten ins Paradies wirft. Eine ähnliche Ambivalenz durchdringt “Samsara Hotel”, ein allegorischer Ort, an dem Dröhnen, Klappern und Verlorenheit den Zyklus des Werdens und Vergehens begleiten. Dramatisches spielt sich im Moloch von Kalkutta ab: Eingeleitet von Gastsängerin Rosa Solés kindlich-melancholischem Gesang über Soundtrümmern entsteht in “Teresa’s Purgatory” ein apokalyptischer Höhepunkt, bei dem man meint, Cabaret Voltaire, Hunting Lodge und Karl Blake hätte sich für fünf Minuten ein Studio geteilt – letzterer ist übrigens ein viel passenderes Vergleichsmoment für Nöla als der inflationär genannte Nick Cave. Es steckt viel Abenteuer im reißerischen Ritualismus des Tracks, und ich musste an den Mitternachtspalast des Katalanen Carlos Ruiz Zafon denken, in dem die schwarze Altstadt von Kolkata zum Schauplatz eines dunklen Mysteriums wird.
In einigen Songs kommt das Schöne, Würdevolle stärker zum Ausdruck, doch auch hier hat alles seine zwei Seiten. In “En Los Ojos de Vivekananda”, bin welchem Demian in Ô Paradis-Manier zu Sitarklängen einen indischen Gelehrten und Sozialreformer des 19. Jahrhunderts besingt, mag noch alles wie aus einem Guss klingen, “Bhagavan” dagegen, das keine Hommage an Osho a.k.a Guru Baghvan ist, hat im Grunde alle verquere Qualitäten eines guten Ô Paradis-Songs: ein knatternder, zisseliger Takt und feierlicher, hallunterlegter Gesang, der wie ein eingeblendeter Schriftzug durch einen luftigen Raum schwebt und eine Stimmung evoziert, die einen ganz eigenen Ort zwischen Euphorie und Wehmut beansprucht. Auf “The Road to Koovagam” mit seiner geerdeten Harmoniumdröhnung klingt schon einiges von der friedvollen Abgeklärtheit an, mit der die beiden im finalen Pianostück “Godavona Express” dem Horizont entgegenpaddeln.
Wenngleich “Indian Summer” für mich ein primär ästhetisches Statment ist, ein leidenschaftliches Spiel der Fantasie zweier verwandter Seelen, finden sich in den allgegenwärtigen Brechungen doch einige vielleicht unbeabsichtigte Spitzen gegen jeden schönfärberischen Exotismus, die auch den hippiesken und backpackerhaften Projektionen ihr Idyll vergällt und ganz nebenbei ein eigenes, besseres erschafft. Ich empfehle als Begleitlektüre Christian Krachts gesammelte Asien-Reportagen Der Gelbe Bleistift und zur Abkühlung eine Portion Kulfir mit Pistazien und Vanille. (U.S.)
Label: Wrotycz Records