Einer der positiven Aspekte des ansonsten nicht so großartigen letzten Jahres war, dass man gezwungenermaßen aus vielen Gewohnheiten gerissen wurde und schon um der Langeweile zu entgehen entweder allein oder im kleinen Kreis Aktivitäten außerhalb des gewohnten Trotts nachging. Einsame Wanderungen in der eigentlich vertrauten Umgebung, die sich schnell als gar nicht so einsam herausstellen konnten, waren eine der Beschäftigungen, die schnell an Beliebtheit gewannen.
Auch der Musiker Arnold De Boer (Zea, The Ex) entschloss sich vor ein paar Monaten, die täglichen Mails, die oft schlechte Nachrichten enthielten, vorerst unbeantwortet zu lassen und stattdessen seine Wahlheimat Amsterdam von einer weniger bekannten Seite zu erkunden. Über mehrere Tage hinweg wanderte er Strecken an der ringförmigen Stadtautobahn entlang, ließ Baustellen, Industrieanlagen, Grünflächen, Friedhöfe mit all ihren versteckten Details und ihrem ganz eigenen Charme auf sich wirken. Abends, wenn die Stimmung noch nachwirkte, setzte er sich mit der Akustikgitarre ins Heimstudio und improvisierte ganz ähnlich seinen Wanderungen ein paar Motive. Von den unmittelbar mitgeschnittenen Aufnahmen fanden acht Stücke ihren Weg auf das vorliegende Album, sein erstes Instrumentalsolo, dessen Titel dazu alles sagt. Auf hundert CDs und zweihundert LPs ist “Minimal Guitar” zu haben und nach dreihundert Streams will der Meister das Werk bereits wieder aus dem Netz nehmen.
Auch wenn der Opener “A region with a degree in redemption” betitelt ist, beginnt die Sammlung bereits mit dem ersten Anschlag rustikal und einfach, unprätentiöse Figuren auf der Gitarre holen einen auf den geerdeten Grund, wo man sich zunächst vorsichtig umsieht. Erst “Bike ride with Agape” bringt nach einem fast meditativen Auftakt Bewegung ins Spiel, das hypnotische Fingerspiel erinnert fast an die geheimnisvollen Stücke von Boduf Songs. Das hochtönende “Rapprochement” dagegen umgibt wieder eine Aura des Wartens, man nimmt die Umgebung auf und wartet ab, was diese mit einem macht. Schon die ersten Tracks demonstrieren eine Vielfalt an Stimmungen und Gangarten, die manch einer mit diesen begrenzten Mitteln nicht einmal auf Albumlänge hinbekommen hätte, denn Minimalismus ist ja leider oft ein willkommener Deckmantel für Ideenarmut. Hier geht es ähnlich kurzweilig weiter: Mal entwickelt sich aus neugierigem Kreisen eine stetiger Takt, begleitet von einer Melodie, die entfernt an mittelalterliche Musik erinnert. Dann wieder wird aus einem gelösten Andante ein drängender Nervenkrieg, und wer in dem Titel “Who is here is from here” die Ausrufezeichen vermisst, der findet sie umso energischer in den aggressiv gezupften Saiten des Songs.
Wer in de Boers Statements dazu von einzelnen Orten ließt, bekommt vielleicht Lust, angeregt von der Musik ein anderes Amsterdam kennenzulernen als das aus den üblichen “50 Things to do in…”-Videos auf YouTube. Oder auf ähnliche Art seine eigenen Orte zu erkunden. Zeit jedenfalls, mal wieder eine Lanze für den Flaneur zu brechen. (U.S.)
Label: Makkum Records