Während der Vorbereitungen zu “Tape Works, Vol. 2″, dem zweiten Studioalbum des Langham Research Centre, erforschte deren Mitglied Iain Chambers einige Orte in Paris und der Umgebung, die besonderes von moderner und sogenannter burutalistischer Architektur und dem Baumaterial (Sicht-)Beton geprägt sind, um der spezifischen Akustik und dem Klang einiger ortstypischer Objekte auf die Spur zu kommen. So basierte der Track “A Return to Spacial Futures” auf Aufnahmen in und um Gebäuden von Le Corbusier, Renée Gailhoustet und Jean Renaudie. Es entstanden dort jedoch, meist in Kooperation mit der Kollegin Dinah Bird, weit mehr Aufnahmen, die nicht ihren Weg auf das Album fanden, und die Chambers nun im Rahmen einer eigenständigen Komposition herausgebracht hat.
Die von Gailhoustet und Renaudie entworfenen Siedlungen, die in den 70er Jahren als Sozialwohnungen konzipiert waren und aufgrund des kommunistischen Hintergrundes Banlieues Rouges genannt wurden, liegen außerhalb der ringförmigen Pariser Stadtautobahn Peripherique und bilden vom Stadtkern weitgehend entkoppelte Satellitenorte. Damals zählten sie zu den (bspw. klimatechnisch) modernsten Bauprojekten und waren dennoch so erschwinglich, dass es dem Wohnungmarkt unserer Tage die Schamesröte ins Gesicht treiben sollte. Man darf sich allerdings nicht von der hierzulande verbreiteten Konnotation irreführen lassen, die das Wort Banlieue oft mit Problembezirk gleichsetzt. Die Banlieues des Vorortes Ivry-sur-Seine, um die es hier geht, sind alles andere als desolate Wohnsilos, bei denen das Wort “Funktion” nur das Existenznötigste bezeichnet, sondern auch nach herkömmlichen Vorstellungen wohnlich getaltet und beherbergen eine heterogene Bevölkerung zwischen einer gewissen Bohème und Familien aus unterschiedlichen Einkommensgruppen.
Sichtbarer Beton ist dort ein das Stadtbild prägendes Material, und stilistisch herrscht dort bei vielen Wohn- und Funktionsgebäuden ein deutlicher Statement-Charakter mit oft waghalsig verwinkelten und verschachtelten Formen vor. Solche Bauweisen, die alles offenlegen, die sich nicht leicht “schlucken” lassen und auch nach einem gewissen Gewöhnungseffekt noch einer Ästhetik des Fremden (Herbert Grabes) verhaftet bleiben, überdauern den Wechsel ästhetischer Moden oft relativ unbeschadet. Eine gewisse Exotisierung in der Wahrnehmung solcher Bausubstanzen (die sich eventuell ihrer Rolle als Stilelement in Filmen – A Clockwork Orange, Brazil, Dark Waters u.v.m. – verdankt) ist sicher ein kontroverses Thema unter ihren Befürwortern. Etwas neutralere, dezentere Brutalismus-Formen dagegen erwiesen sich als kurzlebiger und erschienen vielen als trist und seelenlos, sobald die Geschmäcker sich wieder mehr dem klassische Schönen zuwendeten.
Auch wenn Architektur in ihrer unmittelbaren Erfahrung plurimedial wirkt und Akustik so ihre Wirkung gar nicht getrennt von Hand und Auge entfalten kann, geht es hier primär um die dokumentierten Sounds der Orte. Das in Beton gegossene Paris nähert sich leise wie von weitem hergeweht, eingefangen mit einem Blick, der sich aus der totalen über einen langsamen Zoom nähert. Gesprächsfragmente in hallenden Hallen sind die ersten deutlichen Zeichen, bimmelnde Metallobjekte und vibrierende Loops kommen hinzu, und all dies gewinnt an Charisma, wenn man sie sich als Teil einer Szenerie in Ivry-sur-Seine mit seinen verschachtelten Bauten vergegenwärtigt. Wenn man sich ganz mit dem Mikrofon einszuwerden vornimmt, mag man sich beim legitimen Stalking des alltäglichen Flanierens erwischen, wenn plötzlich die aus einem Fenster oder einer offenen Balkontür dringenden Übertragungen eines Nachrichtenformats das Ohr und das Interesse erreicht. Zwitschernde Vögel, soviel Klischee sei erlaubt, nehmen dem Banlieu jeden dystopischen Anstrich, und warum sollte gelegentlicher Verkehrslärm etwas daran ändern? Zur oftmals grünen Wohnlage in Ivry passt dies ohnehin, und es verträgt sich gut mit der meist aufs Filigrane fokussierten Soundauswahl.
Die Perspektive, der Standort des Beobachters ist immens wichtig, was besonders in den Momenten deutlich wird, wenn sich das Mikro den eingefangenen Sounds graduell annähert und der Hörer durch den Raum geführt wird. Auch bei den großen, gemächlichen Panoramaschwenks, bei denen die unterschiedlichsten Klangfarben – auch jenseits der Assoziationen von Beton und Metall – wie beiläufig eingefangen werden. Der Eindruck von Passivität, vom interesselosen Aufzeichnen, der dabei entstehen kann, wird jedoch immer dann als Täuschung entlarvt, wenn die Handschrift des elektronischen Musikers deutlich wird, der sich so gerne hinter dem Material versteckt, das man ihn beinahe vergessen könnte: beim Spiel mit Hall, bei konzentrierten Loops, die Teile des Soundmaterials besonders hervorheben etc. Und natürlich auch dann, wenn Geschichten erzählt bzw. angedeutet werden: Auf Schulhöfen, an hektischen Kreuzungen, in schattigen Ecken und sonstigen Orten, an denen sich Spannung und Drama ereignet.
Zwei Dinge machen den geheimen Reiz von “Concrete Paris” aus: zunächst die Einladung zum hemmungslosen Projizieren, wobei schon ein rudimentäres Wissen über das Setting reicht, um die Leerstellen kreativ zu füllen; zum anderen die Tatsache, dass Chambers und seine Kollegen vom Lanham Research Center mit Tondokumenten dieser Art erst angefangen haben. (U.S.)