Die beiden Projekte, die sich auf dem vorliegenden Tape zusammen dem Phänomen des Schlafwandelns widmen, sind schon länger in der elektronischen Musik Italiens aktiv und lernten sich doch erst vor kurzem kennen. Sowohl die Römer Flavio Derbekannte und Arianna Degni Lombardo (Noise Cluster) als auch der Sardinier Nicola Locci (Stigmate) sind Hörer und gelegentlich Mitwirkende einer bekannten Radiosendung für experimentellen Lärm (Elettrodo auf Radio Onda Rossa) und wurden so aufeinander aufmerksam.
Trotz ihrer unterschiedlichen Arbeitsweise – Noise Cluster kombinieren gerne Digitales mit akustischen Sounds wie denen der Trompete, Stigmate ist leidenschaftlicher Bastler an analogem Gerät – entdeckten sie schnell die Gemeinsamkeiten, die für eine spontane Kollaboration sprechen. Diese hat mit dem auf 50 Tapes und digital erhältlichen “Extreme Sleepwalking” nun ihr erstes Resultat herausgebracht, und dieses klingt in der Tat so, als wären die drei schon immer eine feste Band gewesen.
Schlafwandel wird gerne metaphorisch für einen apathischen Zustand verwendet, und eine solche Bedeutung klingt durchaus an, wenn das Label in Anspielung an die immer noch aktuelle Pandemie von “the nightmares, bad dreams, and gloomy and depressive feelings this particular historical moment has brought about” spricht. Die Musik selbst – und das von dieser inspirierte Artwork von Fablian Blobel – hat allerdings einiges von echten heftigen Alpträumen – schon gleich zu Beginn, wenn Schreie und andere angstinflößende Elemente über einem schmissigen, kratzigen Loop aus den Boxen dringen.
Auf “Extreme Sleepwalking” herrschen die Mächte des Grauens, und das kehrt auch der straighte Takt des Openers “Mindbender” nicht unter den Teppich, vielmehr hat man den Eindruck, dass die schleifenden und prasselnden Industrialsounds erst auf ihren endgültigen Ausbruch warten. In “Sleep (Mutation)” erzeugen schrille Sounds eine futuristische (oder paläontologische) Klanglandschaft, die droht, in Elektroclash umzukippen, was aber – auch dank elektrifizierter Noiselawinen und Flavios wie meist recht smoothen Trompete – nicht passiert. “Moving Target” startet spannungsvoll pulsierend, doch die vielen Soundideen und Melodiefragmente führen all das noch mal in eine andere Richtung. Die hier spürbare Nervosität kehrt später in “Dim Light” wieder, das eher an die grellen Scheinwerfer schweren Kriegsgerätes erinnert.
Alle Tracks offenbaren einen komplett eigenen Charakter und bleiben in ihrem Verlauf selten unverändert: Die beiden mit Knacken und Knistern beginnenden Teile von “Death Vision”, die irgendwann zu einem monumentalen Inferno an brachialem Pauken und Ariannas gehauchter Stimme anwachsen, finden später ihre (nur scheinbar friedliche) Erdung, bis sich der kratzige Kreis wieder schließt – diese Stücke, bei denen riesige Metallandroiden durch die Landschaft marschieren, würden in großen Hallen funktionieren und müssten, im Unterschied zu etwas subtileren, zurückgenommeneren Stücken wie “Where Am I?” oder “The Fall”, nicht einmal durch ihren ausgeklügelten Detailreichtum überzeugen.
Der “Brain Damage” im abschließend so betitelten Track entpuppt sich als starker Sog, der einen mit Pauken und (buchstäblichen) Trompeten in eine traumhafte Parallelwelt zieht, die an die pathologischen Visionen am Ende von Hoffmanns Der Goldene Topf denken lässt. Dies gelingt wohl v.a. deshalb, weil der Track ein wirklich kraftvolles und mitreißendes Album abschließt. (U.S.)
Label: Grubenwehr Freiburg