LEILA ABDUL-RAUF: Phantasiai

Unter dem Begriff Phantasiai, das offensichtlich mit dem gebräuchlichen Wort Fantasie verwandt, aber nicht bedeutungsgleich ist, verstanden die Denker der hellenistischen Zeit alljene durch sinnliche Wahrnehmung gewonnenen Informationen, die nicht oder noch nicht in bewusste Gedanken übersetzt sind. Manche zählten zu diesen Informationen auch den Inhalt von Träumen, Halluzinationen und imaginierten Bildern.

Angeregt durch den Gedanken, dass am Ort dieser Wahrnehmung auch die Musik zuhause ist, hat die kalifornische Ambientkünstlerin Laila Abdul-Rauf ein ganzes Album der Phantasiai gewidmet. Mit dem Einsatz vom verfremdeten Trompeten, Glockenspiel und Vocals entstanden zwei Suites bestehend aus je vier Tracks, die – zumindest wenn man nach den Titeln geht, und auch die Atmosphäre der Musik spricht nicht dagegen – die Geschichte einer inneren Wandlung erzählen.

Der Opener beginnt mit einfachen Tonfolgen, deren Melodie an ein trauriges Kinderlied erinnert und fast einem alten englischen Gruselfilm entsprungen sein könnte – fast nur deshalb, weil die bimmelnden Soundtupfer und der schwebende Sopran in eine transparente, beinahe gläserne Ambientfläche gehüllt scheint. Im weiteren Verlauf ereignet sich in dieser Hülle manch Dramatisches: an Fanfaren erinnernde und von donnernden Pauken begleitete Bläserparts, die weit entfernt von jedem Mortiis-Kitsch sind, dunkles Grollen und Fragezeichen in die Luft malende Glöckchen in einem passend „Suspension“ betitelten Stück, dann eisige Winde und geisterhaft hohe Stimmparts in dem Track „Disembodiement“, der die erste Suite abschließt.

„Distortions in Phantasy“ ist diese überschrieben, und in den Liner Notes ist von einer imaginierten Auflösungserfahrung die Rede und vom Bewusstsein, dass sich im Sog der Sinne verliert. „The I Emerges“ ist der zweite Teil überschrieben, der das Entstehen einer neuen körperlichen und spirituellen Selbstwahrnehmung illustriert – ein neues Selbst sozusagen, dem aber die Unbeschwertheit und Sicherheit des früheren Stadiums fehlt. „Rebirth“, „In and Out of Being“, „Imago and Mirror“ und „Cell“ heißen die Abschnitte der zweiten Suite, die eine Art Wiedergeburt, aber auch das unwohle Suche nach einem neuen Ort darstellen.

Die Frage des Darstellens bei vergleichsweise abstrakter, eben primär auf Phantasiai basierender Musik wird sich auch hier manch einem stellen, doch die Frage ist auch hier nicht, wie selbstverständlich sich die Gedanken der Küsntlerin im Werk wiederfinden lassen, sondern was diese Musik anstößt, wenn man zusätzlich den gedanklichen Überbau im Kopf hat. Wer intensive, verwehte und gleichsam kristallklare Ambientmusik liebt, wird auch ohne Konzeptkenntnisse seine Freude am Album haben, und wer weiß – vielleicht funktioniert es ja dann mit der Transformation noch besser.

Label: Cyclic Law