Das gleichnamige Album der finnisch-englisch-brasilianischen Combo All That We See or Seem ist nur insofern ein Debüt, als dass die drei Beteiligten – Gruth (Konzept, Produktion, Elektronik), Ellen Southern (Vocals, Field Recordings, Perkussion) und Johanna Puuperä (Violine, Modular Synth, Vocals) – bisher nichts in dieser Konstellation herausgebracht haben. Alle drei können allerdings schon auf diverse musikalische Erfahrungen zurückgreifen, was vielleicht erklären könnte, dass ihr Album zu den großen Überraschungen zählt, die im aktuellen Jahr die dunkel dröhnende Welt in freudige Aufregung versetzt haben.
“All That We See or Seem” enthält zwei rund halbstündige Klangtopografien, denen man selbst im gewöhnlichen Wortsinn das Attribut poetisch beifügen kann, denn beide Stücke greifen zumindest der Idee nach auf Lyrisches zurück. Das die erste Seite füllende “Myrskymielellä” referiert an ein Gedicht, dass der in Finnland jedem bekannte Autor Eino Leino 1891 mit 13 Jahren verfasst hatte.
Dass der junge Dichter in seinem Text die wilden Naturgewalten als Chiffre für einen stürmischen Geist besungen hatte, wird in dem Track vielleicht nicht von Beginn an deutlich, denn “Myrskymielellä” beginnt medial in res mit geheimnisvollen Flüsterstimmen und einem tropfenden und plätschernden Wasser, das auch dann noch friedvoll klingt, wenn es zu einem Regenschauer heranwächst. Der Klang einer Duduk oder eines verwandten orientalischen Blasinstrumentes dringt auf wundersamen Melodiebögen in den Raum wie Schwaden exotischer Essenzen, und wenn das Flüstern sich irgendwann zur Klage einer expressiven Sängerin steigert, hat sich der Ort längst zum Schauplatz einer intensiven Dramatik gewandelt. Vom Label wird nicht zu Unrecht ein Vergleich zu Künstlern wie Dead Can Dance gezogen, doch gelten solche Referenzen (mir kam ein orientalisierendes Pendant zu Bohren & der Club of Gore in den Sinn) nur für bestimmte Abschnitte. Im letzten Drittel transformiert sich das Stück in einen rituell pulsierenden Kraftakt, bei dem ein fast Black Metal-artiges Krächzen sich der letzten Schlacke, die dem Szenario noch innewohnt haben könnte, entledigt.
Dass der Titeltrack, der auf das Edgar Allen Poe-Zitat “Is all that we see or seem but a dream within a dream?” anspielt, leicht hinter das erste Stück zurückfällt, ist nur der hohen Messlatte geschuldet. Es beginnt mit der brausenden Brandung an einem vergessenen Strand, zu der sich erst nach einer Weile seltsam klagende Hochtöner gesellen. Einige weitere Elemente, die nach und nach auf dem Plan erscheinen, Orchestral anmutendes und ein etherischer, wertloser Gesang, greifen nicht in die Unbestimmtheit des atmosphärischen Tableaus ein. Erst die wehmütige Melodie einer Violine lässt etwas deutlicher die Trauer spüren, die in diesem nur in einem Traum erträumten Schauplatz herrscht.
Trotz der Länge beider Stücke bleibt am Ende der Eindruck, dass diese rund 60 Minuten, die es selbst in unseren Tagen noch schaffen, mit dunkel-ambienten Soundscapes wirklich zu überraschen, nur ein Auszug eines viel größeren Corpus an Kompositionen ist. Schön wäre das! (U.S.)
Label: Miasmah