Dass es nicht “die eine” griechische Mythologie gibt, kann man besonders an der Figur der Medusa sehen. Dieses geheimnisvolle weibliche Wesen mit Flügeln war eine von drei Töchtern – den Gorgonen – eines Götterpaares aus archaischer Zeit. In der späteren klassischen Zivilisation, an die man meist denkt, wenn von den alten Griechen die Rede ist, wirken solche Figuren meist urig und beängstigend, und so entstand um die Medusa ein Mythos, in dem sie zur Verkörperung des bedrohlich-monströsen wurde.
Auch in diesen Mythen galt sie, überliefert z.B. in den Metamorphosen des Römers Ovid, anfangs als schön – so schön, dass der maritime Gott Poseidon sie vergewaltigte, als er ihr im Tempel der Göttin Pallas Athene, in dem sie als Priesterin tätig war, begegnete. Letztere, bestürzt über die Schändung ihres Tempels, bedachte allerdings eher sie als ihn mit ihrem Hass und verwandelte sie in eine bedrohlich aussehende Figur mit einem Gewimmel an Schlangenkörpern, wo einst Haare waren. Jeder, der sie fortan sah, erstarrte durch ihren Anblick zu Stein. Pallas Athene war nur eine von zahlreichen Göttern und Menschen, die einen Groll auf die Medusa hegten und den Recken Perseus beauftragten, das “Ungeheuer” zu enthaupten. Mithilfe verschiedener Tricks gelang ihm dies.
Der Mythos der Medusa ist seit der Antike immer wieder Stoff künstlerischer Darstellungen gewesen, und viele darunter – vom antiken Bildhauer Phidias über den Maler Caravaggio bis zu dessen frühmodernen Kollegen Carlos Schwabe – mischten in die Darstellung ihrer Schrecklichkeit eine Ahnung ihrer beeindruckenden Schönheit. Auch in verschiedener Musik, die auf unseren Seiten Thema ist, ist von ihr die Rede. Brendan Perry besingt sie als beinahe masochistisch verklärte Femme Fatale. In einem Stück von Elijah’s Mantle dagegen erhält sie Züge einer gnostischen Gottheit, die zahlreiche z.T. gegensätzliche Züge in sich vereint: la bella, la maledetta, l’amata, la spaventata, l’amara, la sfortunata, la solitaria, la vittima.
Jüngst hat das audiovisuelle römische Duo Noise Cluster, bestehend aus Arianna Degni Lombardi und Flavio Derbekannte, dem Stoff ein ganzes Album gewidmet. Auf “Medusa, Who Else?” wird die Protagonistin zu einer Allegorie des victim blaming und zum Opfer einer der Ursünden vieler patriarchal ausgerichteter Zivilisationen. Gleich zu Beginn im Opener “Meet Medusa”, dessen rauschender, schleifender, nur leicht rhythmisch angereicherter Sound wie aus einer Höhle an die Erdoberfläche dringt und von einer feierlich-endzeitigen Trompete begleitet wird, kommt die Gorgone selbst zu Wort. Ihr Medium ist die tief-raue Stimme von Klarita Pandolfi-Carr, die nach ihrer Karriere mit der Goth-Band Rosen+Kreuz nur gelegentlich musikalisch aktiv ist, und durch sie richtet sie ihren dramatischen Monolog an die Hörer und plädiert, schlicht die mythischen Überlieferungen paraphrasierend, für ein Verständnis ihrer Rolle als Opfer.
“Medusa Who Else?” Ist ein stark kollaborativ ausgerichtetes Album, doch auch ohne die vielen mitwirkenden Stimmen und Klaviertasten offenbaren die einzelnen Stücke allesamt ihre ganz eigene klangliche und stimmungsmäßige Charakteristik. Das darauffolgende “Walled In” beginnt mit einer viel schrilleren Free Form-Trompete und geizt, nach deren Zügelung, auch nicht mit holzig rumpelnden Elektrorhythmen. Im Zentrum steht diesmal die dunkle Stimme des eher als Illustrator bekannten Fabio Magnasciutti, der in einem ähnlich eindringlichen Monolog eine männliche Existenz hinter Mauern beklagt. Was in seinem Lamento fehlt ist die Frau, doch die meldet sich alsbald in gleich zweifacher Form störend zu Wort, um das Bild gerade zu rücken. Die Medusa verwandelte jene zu Stein, so scheint das am Ende des Songs, deren Herzen ohnehin versteinert sind, weil sie immer mehr zu den Mauern geworden sind, die sie umgeben – womit das “Who Else?” des Albumtitels schon beinahe beantwortet ist.
Sind die beiden ersten Stücke so etwas wie das Herzstück des Grundkonzeptes, so wird dieses in den restlichen vier Tracks weiter verfeinert und ausdifferenziert. Rein musikalisch kreieren die einzelnen Songs ein wechselvolles und spannungsvolles Narrativ. “The Gorgons”, das wie die vorausgegangenen Stücke mit einer diesmal badalamenti’esken Trompete beginnt, erweist sich als wesentlich orchestraler, und auch wenn aquatische Sounds und saubere minimale Elektrobeats auf den Plan treten, bleibt ein soundtrackartiger Charakter gewahrt. Wesentlich weiter vor in klassische Filmsounds des 20. Jahrhunderts dringt “Death by Stone”, in welchem KimsonJas Sopran wie von eineralten Shellackplatte in das verwehte Rumoren der Streicher dringt. Hier wird die Frage nach der Möglichkeit der Versteinerung aus “Walled in” wieder aufgegriffen, doch der Titel erinnert auch an die Hinrichtungsmethode der Steinigung und schlägt so vielleicht die Brücke zu misogynen Rechtsvorstellungen. In “Perseus Not A Hero” richten Klarita und Arianna im Duett und gleich mehrsprachig über den zur Marionette erklärten Helden und Monsterbezwinger, dem ein verrücktes Lachen hinterher geschickt wird.
Mit dem instrumentalen “Pegasus”, das mit dem Piano von Flavios Sohn Pusio und einem fließenden Uptempotakt das Nachleben der Gorgone in dem mit Poseidon unfreiwillig gezeugten Mischwesen nur andeutet, erhält das Album ein offenes Ende, und ebenso offen ist auch die Zukunft des Erbes der Medusa. Die Frage nach der nach der Rolle der Frau in modernen Zivilisationen ist nach wie vor ungeklärt zwischen dem Wunsch nach einem Ende patriarchaler Strukturen und Vorstellungen vom bedrohlich-weiblichen, die im äußersten Fall die Opfer von Gewalt und Unterdrückung zu Sündenböcken erklären.
“Medusa Who Else?” erscheint in einem interessanten Format – ein faltbares, wiederverwertbares DIN -A 3-Poster mit neosymbolistischen Zeichnungen Ariannas und den Lyrics bildet den analogen Teil. Die Musik selbst ist aufgrund der Plastikvermeidung über einen Code zum Download erhältlich. Ganz nebenbei ist es überaus erfreulich, dass Flavio hier mehr als in den meisten Noise Cluster-Releases wieder als “postindustrieller Trompeter” zu hören ist. (U.S.)
Label: GattoAlieno