HERMETIC BROTHERHOOD OF LUX-OR: Ohr

Dass das sardinische Duo Hermetic Brotherhood of Lux-Or die im Bandnamen enthaltene altägyptische Tempelstätte, an der heute eine Großstadt steht, in einer veränderten Schreibweise führt, ist keineswegs persönlichen Idiosynkrasien geschuldet und steht sicher auch nicht im Dienste einer Abgrenzung zu dem fast gleichnamigen okkulten Orden des 19. Jahrhunderts. Die Schreibweise scheint vielmehr eine Anspielung auf das hebräische Wort Ohr zu sein, das Licht (lateinisch Lux) bedeutet und in kabbalistischen Philosophien für das göttliche Licht steht, welches zu einer graduellen Selbstverwirklichung führt.

Zugleich beinhalten die Namen heiliger Orte in der Heimat des Duos oftmals die Silbe Or und deren Variationen. Das neue Album der Band ist genau diesen Sachverhalten und ihren vielfältigen Korrespondenzen gewidmet. Die sieben Stücke entsprechen den sieben Sephirot, in die das göttliche Licht unterteilt ist und verstehen sich als Klangemanationen, was dann auch den Bogen zum deutschen Wort Ohr schlägt – und somit dem Organ, welches das Licht in sonorer Form empfängt.

Wer sich von der für viele sicher nicht leicht verständlichen Terminologie nicht einschüchtern lässt, kommt durchaus auch ohne Vorkenntnisse in den Genuss der Musik. Das nach einem Zitat des römischen Dichters Martial betitelte “Cujus vultures hoc erit cadaver?” (Dt. “Wird diese Leiche eine Beute der Geier werden?”) kombiniert Feldaufnahmen kämpfender sardinischer Geier mit dem Klang verschiedener Instrumente, zu denen auch zwei zu Streichinstrumenten verbaute Pferdeschädel (die beiden Mitglieder haben jeweils einen männlichen und einen weiblichen dieser Schädel) zählen. Der anfangs noch eher harmonisch ziehende Streichersound wühlt mit der Zeit eine Menge klangliches Geröll an die Oberfläche, das entfernt an frühe Tapearbeiten von Iannis Xenakis erinnert und sich mit der Zeit zu einem infernalischen Klangbild steigert, in dem perkussive Elemente und etwas, das an keifende Stimmen erinnert, ihren Raum haben. Weit entfernt von jeder aufgeräumten Übersichtlichkeit ist diese Klangkollage mit ihren vielen Schichten doch in einem zusammenhängenden Fluss und endet in einem Geschnatter, in dem die Vögel das letzte Wort haben.

In “From India to Planet Mars” scheint man ebenfalls Tierstimmen zu hören, doch wird das Stück von einem pulsierenden Rhythmus dominiert, der sich durch eine Szenerie vibrierender und melierter Dröhnung bewegt, bis sich alles zu einer kreisenden und immer lauteren Lärmwand steigert. In Reinkultur findet sich dieser Lärm im Folgenden “M’hashashins”, dem vielleicht aufwühlendsten Stück des Albums, in dem hektische Stimmen und Sirenengeheul vor einem roboterhaften Rhythmus erklingen. Doch dieses Industrialszenario ist keineswegs eindimensional, denn eine Dröhnschicht stellt der aufwühlenden Hektik einen ruhigen und fast geruhsamen (und genügsamen?) Kontrapunkt zur Seite.

Jedes Stück das Albums wirkt wie eine in sich abgeschlossene Episode, die eine jeweils eigene Atmosphäre offenbart. In “Seah of Ohrot” geht es mit monoton schleppenden Takten eher niederdrückend zu, doch auch hier gibt es wieder einen Gegensatz in den begleitenden Melodien und einem Feedbacksound, der etwas Infernalisches einbringt. Treibend und reißerisch dagegen gibt sich “Nur Rubin”, das anfangs ein Rock- oder Metal-Auftakt sein könnte und in einer Landschaft gebrochener Rhythmen endet. “Ihr Ohr Texas” ist im herkömmlichen Sinne experimenteller gestaltet mit seinen reibenden und schabenden Sounds, deren Lärm den langsamen Takt endzeitlich anmutender Pauken umgibt, während “Old Neubauten” nach einem Auftakt mit knarrenden metallischen Federn wieder die Pferdeschädel deutlicher anklingen lässt, bevor diese zusammen mit blubbernden Synthies für einen fast schon harmonischen Abschluss sorgen.

“Ohr” ist ein in seiner Vielgestaltigkeit doch kohärentes Album, bei dem sich wiederholtes Hören über einen längeren Zeitpunkt lohnt, denn – ganz gleich ob man sich dabei zu vergleichenden religionswissenschaftlichen Studien anregen lässt oder sich nur der musikalischen Wucht aussetzt – dabei werden sich recht sicher immer wieder ganz neue Seiten offenbaren. (U.S.)