Als vor rund zehn Jahren die Sängerin Kristina Jung wie aus dem Nichts mit einem beeindruckenden Debüt auftauchte, war ich v.a. von der Subtilität angezogen, hinter der man, wie ich damals schrieb, “die Tiefe und die zum Teil abgründige Schwermut der fünf Tracks glatt überhören könnte”. Etwas Heimelig-Unheimliches umgab die Songs, in deren verhuschten Folk-Anklängen eine versteckte Dramatik durchschimmerte, die gerade deshalb so wirkungsvoll war, weil sie nicht mit dem Zaunpfahl winken musste. Seit diesen Tagen hat die nach verschiedenen Stationen heute in Freiburg im Breisgau lebende Sängerin und Musikerin eine große Wegstrecke zurückgelegt, neben ihrer Arbeit (u.a. im akademischen Bereich) und dem ebenfalls sehr arbeits- und planungsintensiven Familienleben ist die Musik nur ein Bereich, dem sie immer wieder mit einer beachtlichen Intensität nachgeangen ist. Dass sie, wie sie im folgenden Interview sagen wird, nur maximalistisch kann, ist in jeder Sekunde auf ihrem vor knapp zwei Jahren erschienenen Album “Care & Explosion” zu hören, einem vielgestaltigen Werk voll emotionaler Grenzgänge und doch bar jeder Sentimentalität, in dem man wie in einer abgedunkelten Wunderkammer oder in den abseitigeren Sammlungen eines Naturkundemuseums auf Entdeckungsreise gehen kann und geradezu hofft, sich zu verlieren. Das sie eine solche Atmosphäre ohne plakative Kontraste mit einer einnehmenden Schönheit zu verbinden weiß, ist eines der vielen Themen, um die es in unserem Interview geht.
Dein erster Longplayer “Care & Explosion” erschien vor etwas über einem Jahr und wurde – nicht nur bei uns – mit einiger Begeisterung aufgenommen. Wie stehst du heute zu der Platte? Hat sich dein Blick auf die Musik nach einiger Zeit etwas verändert?
Ich höre das Album recht selten. Eigentlich nur, wenn mein Mann es Gästen zeigt. Und dann freue ich mich einfach, dass ich das gemacht und geschafft habe, so ein lebendiges Album, mit all seinen Stärken und Schwächen zu schreiben und aufzunehmen.
Könntest du dir vorstellen, dass du die Platte irgendwann mal wie das Werk einer anderen Person hören könntest, schlicht weil sich mit der Zeit so viel verändert hat? Ich komme darauf, weil es mir selbst manchmal mit meinen älteren Texten so geht…
Schwer zu sagen, aber an der Platte hängen so viele Erinnerungen, Freud und Leid, kleine Siege und harte Kämpfe, da muss noch eine Menge Wasser den Bach runter, bis ich einen solchen Abstand habe.
Du hast, soweit ich weiß, eine klassische Gesangsausbildung absolviert. Wie würdest du deine Entwicklung als Sängerin beschreiben? Gab es besondere Ideen, Paradigmen und vielleicht auch Aktivitäten, bevor deine heutige Karriere als Sängerin und Songwriterin geboren wurde?
Ich hatte als Schülerin und zu Beginn meines Studiums tatsächlich viel klassischen Gesangsunterricht, aber ich habe, und das ist ein entscheidender Unterschied, nicht Gesang studiert. Opernsängerin war jedoch, als ich jünger war, ganz klar, mein Traumberuf. Doch je mehr Einblicke ich in die Opernwelt bekommen habe, desto bewusster wurde mir auch, dass ich mich immer wie ein Fremdkörper fühlen würde. Das hat sich zunächst angefühlt wie ein Scheitern, aber heute bin ich froh.
Wie kam es zu deiner Entscheidung, als Kristina Jung Musik aufzunehmen und aufzuführen?
Das war weniger eine Entscheidung als ein organischer Prozess. Jung ist der Mädchenname meiner Großmutter, unter dem Namen habe ich meine ersten Konzerte gespielt und dann blieb er einfach. Und von den ersten eigenen Liedern und Konzerten bis hin zu den ersten Aufnahmen war es dann nur ein kleiner Schritt. Letztlich hat mein Gitarrenlehrer in den USA irgendwann während der Stunde gesagt „that sounds lovely, let me grab a mic“ und dann ging’s los.
Es hieß mal, du hast dir das Studiohandwerk quasi autodidaktisch beigebracht. Stimmt das, und wenn ja, war das ein spielerischer Akt und wo lagen die größten Herausforderungen?
Ja, auch das war das Ergebnis eines Scheiterns. Ich habe 2016 meine Dissertation abgebrochen und hing dann erstmal ziemlich in der Luft. Also habe ich mir Software, ein Handbuch und günstige Mikrophone besorgt und losgelegt. Das war auf jeden Fall naiv und spielerisch und das habe ich nach all den Jahren akademischen Ernstes und Leistungsdruck auch gebraucht. Ich liebe es, aufzunehmen. Nirgendwo sonst im Leben habe ich mehr Gestaltungsfreiheit. Ich habe eigentlich nur schöne Studioerfahrungen gemacht, aber trotzdem wollte ich nicht immer auf irgendwelche Männer warten, die dann eine Vision von meiner Musik entwickeln. Ich wollte die Vision selbst umsetzen können.
Gibt es eine besondere Art, wie du gemeinhin an neue Herausforderungen herangehst?
Voller Angstlust.
Zwischen deinr Debüt-EP “Into the Light that I have Known” und der Veröffentlichung des ersten Albums lagen mehrere Jahre, in denen du außerdem eine Familie gegründet und, wenn ich da richtig informiert bin, im akademischen Bereich gearbeitet hast. Hast du dir auch wegen der anderen Prioritäten mit der Musik Zeit gelassen, oder bist du auch einfach sehr gründlich und lässt den Ideen ihre Zeit, um heranzureifen?
Also, ich habe während der Arbeit am Album zwei Kinder bekommen, dreimal den Wohnort gewechselt und dreimal den Beruf, ein Weiterbildung gemacht, wissenschaftlich veröffentlicht, ein Haus gebaut und, wie wir alle, eine Pandemie überstanden. Da ist einfach eine Menge Leben dazwischen. Aber ich habe eben auch gelernt, wie man ein Album macht, während ich es gemacht habe. Da brauchte es schon viel Zeit für Fehler. Außerdem habe ich Gitarre und Gesang gleichzeitig aufgenommen und ohne Click. Wenn ich es also am Ende eines tollen Takes vergurkt habe, dann konnte ich nicht einfach schneiden, sondern musste von vorne anfangen.
In einigen deiner Songs steht der Körper in seiner Ausgesetztheit, Bedrohtheit und manchmal auch Versehrtheit, mit anderen Worten als unsicherer Ort einer immer überschreitbaren Grenze, im Zentrum. Wie kam das Thema zu dir? Möchtest du mit dieser Motivwahl auch ein Zeichen gegen die immer noch starke Tendenz idealisierter Körperbilder in populärer Ästhetik setzen?
Ich glaube, das Thema war schon immer da. Das Leben ist so kostbar und wir sind so stark und so fragil zugleich, wie könnte ich da nicht drüber nachdenken? Ich glaube aber auch, dass ich keine Frau kenne, die sich ihrer Verwundbarkeit nicht voll bewusst wäre. Wir haben im Patriarchat nicht das Privileg, uns unbesiegbar zu fühlen.
Abgründiges kommt in deinen Songs oft zusammen mit einer halbverdunkelten Lieblichkeit vor. Was macht für dich den Reiz einer solchen Atmosphäre aus und gibt es da eventuell Vorbilder in anderen Medien?
Ich glaube, mich interessiert das Spannungsfeld von Schönheit und Vergänglichkeit. Vorbilder gibt es da überall, David Lynch fällt mir sofort ein, Francis Bacon, Nan Goldin, Gregory Crewdson, Hieronymus Bosch, Christian Petzold, Sofia Coppola, Marcel Proust, Robert Musil. Ich sage manchmal in meinen Konzerten, dass es mein Ziel ist, alle heulend nach Hause zu schicken. Das ist natürlich ein Witz, aber andererseits glaube ich schon, dass etwas Kathartisches in einer Trauer steckt, die ein Kunstwerk in uns ausgelöst hat.
Deine Musik ist voller Details, die man als versteckte Stör- oder zumindest heterogene Elemente begreifen könnte, und die den Songs einen besonderen Reiz geben (Beispiele wären das spukhafte Flüstern und andere Sounds in “Infant Thoughts”, eine hypnotische Spannung, die den von Schmerzlust erzählenden Text in “Domestic Bliss” begleitet, die Samples im Kontrast zur verwunschenen Melodie in “Ada”, aber oft auch die in einer subtilen Schwebe gehaltene Stimmung in vielen der Songs). Suchst du bewusst nach solchen Dingen, oder ergeben sie sich eher automatisch?
Also, wenn mir ein Lied oder eine Aufnahme zu nett geraten sind, verspüre ich schon ganz klar den Drang, dem etwas entgegen zu setzen. Mir ist Komplexität lieber als Kohärenz und da ist eben die Produktion eines Stückes der ganz entscheidende Hebel, da kann man dann eben nochmal etwas in den Hintergrund basteln, das dem Stück etwas Unheilvolles verleiht.
Als ein mit schwarzer Romantik aufgewachsener Nachtschwärmer habe ich mich vor allem in den Song “The North Water” verguckt, es ist eines meiner Favoriten auf dem Album. Was ist das für eine Geschichte, die du da erzählst?
Ja, North Water ist definitiv auch einer meiner Lieblinge. Das ist das erste Stück, das ich für das Album aufgenommen habe. Das Groninger Museum, ein Kunstmuseum in Groningen, hat mich gebeten, für eines ihrer Exponate ein Stück zu schreiben, das die Besucher*innen dann im Audioguide hören können. Sie haben mir eine Datenbank aus Exponaten geschickt und ich habe mich für einen alten, niederländischen Schinken entschieden, Segelschiffe im Sturm, der Himmel reißt auf, die Sonne kommt durch, sowas. Es geht ums Abschiednehmen und ums Zurückbleiben, um Wut und Trauer und um den Schmutz und Charme einer Hafenstadt.
Zu deiner Musik wurde u.a. gesagt, dass sie Folkeinflüsse ohne romantisches Idyll umsetzt. Ich würde das auch sagen, aber in meiner Wahrnehmung gab es auch in der Vergangenheit immer desillusionierende Brüche in derartiger Musik, und Folktraditionen entwickelten sich ja selten ohne andere musikalische Einflüsse. Gibt es Musik mit derartiger Ambiguität, die deine Hörgewohnheiten und deine eigene Kreativität besonders geprägt hat?
Ja, na klar, das habe ich nicht erfunden, das gibt’s immer schon und überall. Bei Schubert und Schuman, Chopin, Mahler, da findet man diese Diskrepanz zwischen schöner Oberfläche und Abgrund ja auch. Während ich das Album aufgenommen habe, habe ich eine Menge Sorten Musik gehört. Viel Alt-J, Beyoncé, Ghostpoet, Madrugada, Massive Attack, Radiohead, Sevdaliza, und Marika Hackman. Alles sehr unterschiedlich Musiken mit der Gemeinsamkeit, dass sie schöne Melodien haben. Das ist mir wichtig.
Das Album wurde zum Teil während deiner Schwangerschaft geschrieben. Würdest du sagen, dass es – auf wie auch immer verquere Weise – ein mütterliches Album geworden ist?
Geschrieben war es eigentlich schon davor, aber aufgenommen habe ich es unter anderem auch während der Schwangerschaften oder mit Baby auf dem Rücken. Aber da ich mich vor den Kindern bereits ganz ausführlich mit Mutterschaft auseinandergesetzt habe und das auch in den Liedern thematisiere, ist es auf eine Art, wie du sagst, „verquer mütterlich“.
Ich hatte “Care & Explosion” in meiner Besprechung als “großes” Album bezeichnet und wollte damit – neben der musikalischen Qualität – auf die Fülle an Ideen, Themen und musikalischen Motiven hinweisen, vielleicht auch auf die große Bereitschaft zu einem so umfassenden Ausdruck. Würdest du bei einem kommenden Album wieder etwas reduktiver zu Werke gehen oder wäre das zu sehr geplant?
Ich befürchte, ich kann nur maximalistisch. Sonst würde es schneller gehen.
Sind dir die Stücke auf „Into the Light that I have Known“ immer noch nah, oder ist es für dich eher eine Platte aus der Vergangenheit? Wir finden, es hat großartige Momente…
Danke! Ich höre wie gesagt nie rein, in beide Veröffentlichungen nicht. Mir geht’s ums Machen, was danach kommt, ist mir nicht so wichtig.
Worin unterscheiden sich die beiden Releases deiner Meinung nach besonders, auch hinsichtlich der Entstehungsprozesse?
Bei „Into the light that I have known” wollte ich alles richtig machen. Bei „Care and Explosion“ nicht.
Wie wir gehört haben, nimmst du bald an einer Tribute-Compilation zum Werk Roky Ericksons und der 13th Floor Elevators teil. Was für einen Song hast du ausgewählt und was können wir da erwarten?
Ich habe mich für „Cold Night for Alligators“ entschieden. Mein Mann hat mal eine Compilation für Autofahrten gemacht, die so hieß, und auf der der Song auch drauf ist. Daher liegt er mir am Herzen. Außerdem lässt er sich gut singen und „Night of the Vampire“ war schon vergeben. Ich habe das Lied sehr verlangsamt und versucht, eher eine Hommage an Rokys besondere innere Verfassung zu machen als ein Cover. Das Stück ist also voller Perspektivwechsel und Brüche, ich habe eher filmisch gedacht als musikalisch. Aber am Ende ist es natürlich Musik.
Gibt es weitere Pläne, mit denen du in den Startlöchern stehst? Natürlich sind wir gespannt, wann es wieder Zeit für ein neues Album ist?
Das wäre schön. Aber de facto ist es in Deutschland praktisch unmöglich, Eltern zu sein, zu arbeiten und gleichzeitig noch künstlerische Ambitionen zu hegen, ich zumindest kenne kaum Eltern kleiner Kinder, die das unter einen Hut kriegen. Die Öffnungszeiten unserer Kita decken nicht mal unsere Arbeitszeiten ab, also ist schon der Arbeitsalltag eine absurde Jonglage zwischen Kita, uns als Paar und den Großeltern. Das Roky Erickson Cover konnte ich nur machen, weil ich so viele Überstunden angesammelt hatte, dass ich mehrere Wochen freinehmen konnte. Dieses Interview kann ich nur beantworten, weil ich krank daheim liege. Und mir fehlt etwas ganz Entscheidendes im Leben, und das ist Langeweile und Alleinsein. Das heißt nicht, dass ich aufgebe. Aber schon das letzte Album war ein unglaublicher Kraftakt für alle Beteiligten, meinen Mann, meine Eltern, meine beste Freundin und nicht zuletzt unsere Tochter, die eben viel auf mich und uns verzichten musste. Und auch ich musste im Anschluss erstmal sehr lange Pause machen.
Ich schätze, es ist überflüssig zu betonen, dass das Problem vor allem die Mütter betrifft. Während die meisten Väter auch nach Geburt der Kinder Hobbys behalten, beginnen die Mütter ihre Freizeit um die Familie herum zu organisieren. Freizeit ist dann, einen Osterstrauch zu basteln, Kleidung für die Kinder zu nähen, all sowas. Ich mache das so gut es geht nicht, zu dem Preis, dass es halt keine Osterdeko gibt und die Kinder nicht daheim Eier bemalen. Aber der Gewinn ist eben, dass ich einem recht ambitionierten Beruf nachgehen kann und es gelegentlich auch noch ans Klavier schaffe. Die Lösung ist politisch und sozial: Ohne mehr und bessere Betreuungsplätze und ohne eine gesellschaftliche Neubewertung von Mutterschaft und Vaterschaft werden wir immer an den Punkt kommen, an dem Frauen ab dem ersten Kind zunehmend unsichtbar werden in allem, außer eben der Tatsache, dass sie Mutter sind.
Interview: U.S. und A. Kaudaht
Fotos © Frank Bale
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