KRISTINA JUNG: Care & Explosion

Hätte die heute in Freiburg im Breisgau lebende Sängerin Kristina Jung nicht ab und zu einen neuen Song rausgehauen, hätten manche vielleicht gar nicht mehr mit einem längeren Lebenszeichen gerechnet und ihre vor mittlerweile acht Jahren erschienene Debüt-EP “Into the Light that I have Known” mit allen Klagen über vergeudetes Potential als Eintagsfliege abgetan. Ganz abgesehen von familiären und beruflichen Verpflichtungen war die Musikerin aber auch in kreativer Hinsicht kaum untätig, schrieb neue Stücke, lehrte sich selbst das Studiohandwerk und trommelte eine Reihe an Begleitmusikern zusammen. Nun, da “Care & Explosion” in den Regalen steht, kann man sagen, dass sich die investierte Zeit in jedem Fall gelohnt hat. Ihr erster Longplayer ist auf vielfältige Weise ein wirklich “großes” Album geworden.

Vom Label und in den wenigen bisher erschienenen Rezensionen wurde zurecht auf die etwas opulenter instrumentierte Klanggestaltung der neuen Aufnahmen hingewiesen, wenn man sie mit dem etwas puristischeren Folksound der EP vergleicht. Trotzdem erlebt man schon in den ersten Minuten des gleich medias in res beginnenden Openers “A Wolf in Every Womb” einige Deja-Vu-Momente – allem voran der Klang leise gespielter Gitarrensaiten, leicht elektrifiziert, bedächtig, langsam und doch nie ins Sentimentale kippend, sondern eine Monotonie der Weite wahrend, die zusammen mit der entrückt tremolierenden Stimme eine halb abgedunkelte Schummrigkeit erzeugen. In all dem schleicht sich klammheimlich eine altbekannte Abgründigkeit mit an, in der der Körper und seine Unversehrtheit auf eine für Kristina Jung ganz typische Art auf dem Spiel steht, hier im Moment des bildichen Gefressenwerdens durch den Wolf, den archetypischen Märchenschreck, der hier aus dem Inneren des Uterus knurrt. Was hier noch implizit bleibt – z.B. im Imperativ “Crack me open” – wird in anderen Stücken deutlicher: eine seltsame und im Rahmen der Lyrics immer nachvollziehbare Bejahung dieser symbolischen Gewalt, die zu Befreiung unterschiedlichster Art führt.

Nach der anheimelnd-verwunschenen Americana von “Twin Peaks”, in der Schönheit und Grausamkeit, Geborgenheit und fröstelnder Schauder hinter einem lieblich-smoothen Saxophonsolo über den Bildschirm ziehen, folgt mit “Domestic Bliss”, wie der Titel bereits ironisch andeutet, eines der abgründigsten Stücke. In den vordergründig schönen Gitarrenpickings, die etwas zu repetitiv für ein Idyll sind, steckt eine Anspannung, die bald deutlicher wird. Der Text, in welchem “let’s play family” neben “let’s burn in hell for a while” zu hören ist, zelebriert eine Grenzerfahrung, in deren Intensität man sich selbst spüren kann. Dass Kristina Jungs Musik übrigens trotz folkiger Einflüsse wenig von Feld-, Wald- und Wiesenromantik bietet, wird gerne hervorgehoben. Dass wurde allerdings schon von vielen Folkacts gesagt, und Jungs Alleinstellungsmerkmal ist dabei eher, dass die nebelige Verwunschenheit ihrer imaginären Welten vor der Kulisse urbaner Canyons niemals wie ein an den Haaren herbeigezogenes Paradox anmutet.

Die genannte Schummrigkeit, durch die man sich die Musik sehr gut in einer verschlafenen Kellerbar nach Mitternacht vorstellen kann, sorgt dafür, dass man sie auch einfach als angenehm dunkelromantische Beschallung konsumieren könnte – könnte, denn es würde einem einiges entgehen, und überhaupt lässt einem “Care & Explosion” kaum die dafür nötige Ruhe, wenn man sich erst einmal näher an die Songs herangewagt hat: An “Infant Thoughts”, das mit seinem lieblichen Glockenspiel ein angenehmer, “kleiner” Song sein könnte, wenn es nicht die Geschichte eines in Alkohol aufbewahrten Fötus erzählte; die eindringliche Interpretation von Joni Mitchells “The Prist”; das bereits von einer Compilation her bekannte “The North Water”, das ein Schiff im Walzertakt in eine merkwürdige Parallelwelt segeln lässt; der üppig instrumentierte Song “Does theWolf Know”, der oberflächlich gehört fast wie ein braver Violinfolksong klingt, aber die Wolfssymbolik der Openers aufgreift, der in jeder Gebärmutter steckt; das in seinem trunkenen Tremolo hypnotisierende “Ada”, bei dem der Bildbereich von Schwangerschaft und Geburt überdeutlich wird und weit über die Grenzen des Metaphorischen hinausgeht. Der Song ist eine Hommage an ihre zur Zeit des Songwritings noch ungeborene Tochter, deren aufgezeichnete Herzschläge wie Pferdehufe zum Fundament des Songs werden. Ein musikalischer Zwilling – oder Wechselbalg – im schönsten Sinne.

Wäre “Care & Explosion” ein Film, dann wäre er episch, und als Buch hätte es den Umfang eines mehrbändigen Murakami-Schinkens, der trotz sich wiederholender Bilder auf keiner Seite Langeweile aufkommen lässt. Warum? Weil “Care & Explosion” zu einer eindringlichen Reise durch immer wieder neue, reale wie surreale Stationen einläd – Episoden einer opulenten Geschichte, die immer Gefahr laufen, einen eigenen Kosmos entstehen zu lassen, der sich beim wiederholten Hören mehr und mehr kokretisiert. (U.S.)

Label: Cosirecords