Avi C. Engel zeigt sich mit ihrem neuen Album “Nocturne (Soundtrack for an Invisible Film)” einmal mehr als äußerst konsequente Künstlerin, die ihre Musik mit beeindruckender Regelmäßigkeit veröffentlicht. Der Longplayer, auf dem Engel alle Instrumente selbst spielt, ist ein bewegendes Werk, das laut ihrer eigenen Aussage während einer Phase von Schlaflosigkeit und Depression begann und mit ihrem inneren Aufbruch aus dieser Zeit seinen Abschluss fand. Engel beschreibt das Album als einen Versuch, ihren Geist zu beruhigen – und hofft, dass es auch andere ebenso beruhigen oder zumindest auf interessante Weise ablenken möge. Diese Intention spiegelt sich in jedem Detail der Aufnahme wider.
Über die Hälfte der Tracks auf “Nocturne” sind instrumental gehalten, so auch das Eröffnungsstück “Near Snake Island”, das bereits eine kraftvolle Atmosphäre erzeugt. Die Klänge von Wind und Wetter wirken zunächst unheilvoll, bis erdende Streicherparts einsetzen, die eine bittersüße Melancholie hervorrufen. Man fühlt sich wie auf einem einsamen Boot, im Sturm, aber zugleich seltsam gefasst – ein starker Einstieg.
“Where Does a Moth Go?”, eine erste Wegmarke des Albums, hebt diese Stimmung in himmlische Sphären. Ambientartige Klänge, zart und schwebend, leiten den Song ein, bevor Engels Stimme wie aus einem Meer der Klänge auftaucht. Die Worte, die sie haucht, sind zunächst kaum greifbar und doch tief berührend. Die Textzeilen, in denen sie über den Rückzugsort eines Nachtfalters reflektiert, sind von poetischer Schlichtheit, die vielschichtige Soundkulisse unterstreicht die entrückte Stimmung perfekt. Mit “Nostalgia, a Saccharine Poison” zeigt Engel ihre Stärke im minimalistischen Spiel mit der Akustikgitarre. Die intimen Fingerpicking-Melodien wirken spontan, fast improvisiert, fügen sich aber nahtlos in die orchestralen Arrangements ein, die dem Stück eine geerdete und zugleich wehmütige Tiefe verleihen. Hier spätestens wird die emotionale Bandbreite des Albums greifbar.
“Bones Beguiling” knüpft daran an, aber mit einer subtilen Unruhe in den melodischen Tonfolgen. Der ernste Gesang, begleitet von anrührenden Bildern wie “Soldiers with heads of wolves haunt the shore at sundown”,” lässt den Hörer tief Abgründe blicken. Trotz seiner Intensität fügt sich der Song beinahe lakonisch in das Gesamtbild des Albums ein. Mit “E Minor Fermented” bringt Engel eine lockere, fast groovige Note ins Spiel. Das dezente Picking wird durch perkussive Elemente ergänzt, die wohl ebenfalls aus einem Saiteninstrument entstammen. Doch auch hier bleibt die Grundstimmung, trotz des Raumen, den sie lassen, melancholisch.
Zu den besonderen Momenten des Albums zählt zweifellos auch “Into the Golden Void”. Entrückte Gitarrenornamente und leicht perkussive Klänge schaffen ein entschleunigtes, fast transzendentes Erlebnis. Der klagende, zugleich befreite Gesang spricht von Vergebung und Zerstörung, von Fragen und Transformationen. Ein völlig anderes, eher beunruhigendes Bild zeichnet “Night Walk in the Loon Sanctuary”. Metallische Klänge, die wie Schritte wirken, und summende Instrumente erzeugen eine gruselige Hörspiel-Atmosphäre, die von zunächst verzückt trällernden, später imemr deutlicher heulenden Gesangsschnipseln durchbrochen wird. Das Stück bleibt intensiv und verstörend, und hier zeigt sich besonders stark, dass diese Musik als Soundtrack für einen Film gedacht ist, der sich vor dem inneren Auge abspielt, sobald wir die äußeren schließen. . “Ariel” kehrt zurück zur pastoralen Sanftheit. Die Gitarre trägt den Song, während Engels markanter Gesang zwischen Wehmut und Ernsthaftigkeit pendelt. Die nostalgischen Streicher im Hintergrund fügen sich harmonisch ein und verleihen dem Song etwas sublimes.
Mit “Cocoon” schließt das Album in entspannter, offener Weise. Ohne Worte, gleichwohl einige Instrumente melodisch eine Funktion ausfüllen, die für gewöhnlich dem Gesang zukommen, und getragen von dynamischen Arrangements, wird der Hörer sanft eingehüllt, was vielleicht so etwas wie das Ziel des ALbums erfüllt. “Nocturne” verzichtet dabei bewusst auf deutlich ohrwurmartigen Hits, die es in den zurückliegenden Releases oft gab, doch gerade diese Zurückhaltung stärkt das Album als kohärentes Ganzes, in dem sich jedes Stück wie ein Teil eines größeren Gewebes anfühlt. “Nocturne” ist ein leises Meisterwerk, das durch seine introspektive Atmosphäre und emotionale Ehrlichkeit besticht. (U.S.)
Label: Elephant Shrew Editions