Manchmal sind die Personen, die einer Künstlerkarriere oder einer Institution wie z.B. einem Label durch ihre Inspiration erst den initialen Kick geben, unbekannt, und doch ist ihre Wirkung in allem, was folgt, irgendwie zu spüren. So auch im Fall vom Stirpe 999 Antilabel, das anlässlich seines fünfundzwanzigjährigen Bestehens mit der Compilation “Trincee” nicht nur seine musikalische Bandbreite feiert, sondern auch dem verstorbenen Dichter und engen Weggefährten Phil Sick eine Hommage widmet. Sein italienisches Gedicht, das der Sammlung ihren Namen gibt, zieht sich wie ein unsichtbarer Faden durch die Zusammenstellung: eine Reflexion über Zerrissenheit, Widerstand und das Nebeneinander von Fragilität und Intensität – ein thematischer Rahmen, der sich in den fünfundzwanzig Beiträgen auf unterschiedliche Weise widerspiegelt.
Die ersten Stücke des Albums sind oft von einer filmischen Atmosphäre geprägt. Aserets “Crepuscolo” entfaltet dunkle, hallende Ambientflächen, die sich langsam aufbauen und an Lautstärke gewinnen, während im Untergrund subtile flatternde und ratternde Geräusche eine fast unmerkliche Spannung erzeugen. Das Stück wirkt wie eine immense, leere Halle, durch die ein Echo gleitet – ein langsamer, faszinierender Spannungsbogen, der an einen Soundtrack für eine stille, ausgedehnte Szene erinnert. “0.0″ von God is a perfect sine feat. Stratagem geht noch zurückhaltender vor: Ein melancholischer, fast zerbrechlicher Klangraum entsteht, getragen von sanftem Gitarrenspiel, das sich vorsichtig vorantastet. Zwischen den Tönen liegt ein entspannt-ekstatisches Flüstern verborgen, das sich fast mit den Störgeräuschen vermischt, doch die ruhige Grundstimmung bleibt unerschütterlich.
Menions “How the wind caresses the leaves” beginnt mit minimalistisch-repetitiven Gitarrenmustern, die sich mit einem sanften Regenschauer vermengen. Nach und nach verdichten sich die Elemente, bis sich das Stück in eine beinahe technoide Minimal-Music-Struktur steigert, hypnotisch, treibend und doch mit der Intimität einer akustischen Aufnahme. Munsha kombiniert in “Recalling an imaginary friend” hochtönendes Dröhnen mit dunklem Grollen und tiefen, aufwallenden Klangflächen, in die sich bald Cello-Saiten mischen. Ihr Gesang schwebt zunächst echolalisch in der Luft, um dann immer tiefer und eindringlicher zu werden und eine fast opernhafte Intensität erreichen, die von knackenden und knarrenden Geräuschen durchsetzt ist. Das Stück entwickelt eine düstere, apokalyptische Wucht, die zu einem svankmaieresken Animationsfilm passen würde und bei der man sich unweigerlich fragt, was für ein imaginärer Freund hier beschworen wird. Cate Hops’ “Rim” setzt im Anschluss auf eine kühlere, fast metallische Klangästhetik, die von Hall durchzogen ist und an eine elektronisch aufgeladene Tropfsteinhöhle erinnert. Ihre verhallte Stimme trägt wiederholte Sätze vor, die sich mit Themen rund um die Grenzen Europas befassen, während schabende und perkussive Elemente eine raue, unruhige Textur hinzufügen. Cindytalk zeigen mit “Eye took thee asypath” eine sanfte, aber kraftvolle Seite ihres Klangkosmos. Sanfte, schimmernde Wellen branden an, begleitet von kostbarem, filigranem Gebimmel. Doch dann schleichen sich knackende und prasselnde Geräusche ein, die die Komposition in eine perkussive Richtung lenken – jedoch nie so stark, dass sie die fragile Grundstruktur zerstören.
Daneben gibt es rhythmischere und perkussivere Stücke wie das kantige “ARLMCX” von Reeks, das mit flinken, metallisch-fisselnden Rhythmen und verzerrtem Rauschen eine kantige Energie entwickelt. YiNs “Isole Fantastiche” arbeitet mit stampfend-repetitiven Takten, die eine hypnotische Wirkung entfalten, während geloopte Sprachsamples für eine zusätzliche Schichtung sorgen. Acrartep liefert mit “Subtle Discordia” eine dichte, vielschichtige Komposition, die sich in Wellen aus warmen, rauen Synthiedrones aufbaut, mit rauschenden und wischenden Texturen durchsetzt ist und immer wieder scheinbarte Richtungswechsel andeutet, ohne jemals seine innere Konsequenz zu verlieren. Bei “My sick bastard” von Fire at Work, deren Mastermind Fabrizio Rossi auch im Cindytalk-Lineup auftaucht, entsteht aus fragmentarisch eingefügtem, räudigem Knarren und düsteren Filmsamples eine fast skulpturale elektronische Struktur, in der plötzlich Orgelklänge, tiefes Brummen oder verstümmelte Kettensägenriffs aufblitzen. Ein Stück, das immer wieder den Eindruck erweckt, dass sich hier unsagbares zusammenbraut.
Auf der zweiten Hälfte der Sammlung dominieren z.T. komplexe Rhythmen und ansätze von Rhythm’Noise und ambient eingebettetem Drum’n'Bass, gleichwohl dies keineswegs in Reinkultur zu verstehen ist. Auch hier bietet die Compilation eine große stilistische Bandbreite, von den vertrackten Rhythmen von Nrgle und Daena über die krachige Direktheit von Rugitus Aeternum bis hin zu entrücktem, melodischem Ambient wie in Retilezekts “Nony’s Temple”. Besonders sticht das düstere, elektrifiziert-dubbige “Mictlan” von Réptil Desértico hervor, das sich von einer schummrigen Klanglandschaft zu einem verzerrten Lärmgewitter steigert. Seppuku liefern mit “Fuck Trusk” einen höllischen Ambient-Track mit zahlreichen verborgenen Details, der schließlich in hypnotische Weite kippt und sich gegen Ende in rohen Lärm auflöst.
Den Abschluss bildet Peppe Bottiglieris “Electric Fish” – ein warmer, brummender Track, der sich organisch entfaltet, dabei aber immer wieder von metallischen und quiekenden Sounds gebrochen wird, die dabei sogar eine gute Portion Melodik entfalten. So bleibt “Trincee” bis zum Schluss eine Compilation, die ständig neue Facetten zeigt und sich keiner klaren Einordnung unterwirft und ist ganz nebenbei ein perfektes Release, um das hierzlande icht anz so bekannte Stirpe 999 Antilabel kennenzulernen.
Label: Stirpe 999