V.A.: Noise Forest

Die Wiederveröffentlichung der 1992 erschienenen Compilation “Noise Forest” bietet nicht nur eine akustische Rückschau auf eine prägende Ära des Japanoise, sondern auch eine sorgfältig remasterte Neuauflage, die dieses bahnbrechende Werk endlich einem neuen Publikum zugänglich macht. Ursprünglich auf dem legendären Les Disques Du Soleil-Label veröffentlicht und seit langem vergriffen, erscheint die Sammlung nun erstmals auch auf Vinyl und bietet neben dem Originalmaterial auch eine optisch ansprechende Neuaufmachung.

Die Compilation versammelt einige der wichtigsten Vertreter des Japanoise der frühen 90er-Jahre, als die kleine aber bahnbrechende Subkultur gerade dabei war, ihrem Epizentrum in der Kansai-Region um v.a. Osaka, Kobe und Kyoto ein weiteres in der Kanto-Ebene, also im Großraum Tokio, zur Seite zu stellen: von Ikonen wie Merzbow, Violent Onsen Geisha, Masonna und Incapacitants bis hin zu weniger bekannten, aber ebenso relevanten Projekten wie Solmania und Dislocation. Dabei besticht die Sammlung durch eine stilistische Vielfalt, die konventionell geprägte Musikhörer vermutlich nicht wahrnehmen würden, die den von den Harsh Noise Wall-Diskursen der vergangenen Dekaden geprägten Millennials allerdings die Schamesröte ins hipsterbärtige Gesicht treiben sollte.

Den Auftakt macht der bis heute bekannteste japanische Noiser Akita Masami alias Merzbow mit “Travelling”, einem Stück, das oberflächlich an die Strukturen harshnoisiger Raufasertapeten erinnern mag, sich dann aber als überraschend melodisch und rhythmisch, gleichsam nicht beatlastig, strukturierte Klanglandschaft entpuppt. Mit satten, substanzreichen Geräuschen, die in steten Intervallen herausgestoßen werden und immer wieder durchbrochen von abrupten Wendungen, entfaltet sich eine schrille Kakophonie, die ebenso fordernd wie detailreich ist.

Das Kontrollzentrum für kosmische Zufälle a.k.a. C.C.C.C. schlägt mit “IMR-32″ eine düstere, schwergewichtigere Richtung ein. Die raue, breiige Klangästhetik vermittelt eine niederdrückende Atmosphäre, die sich klar von der aufgekratzten Energie des Merzbow-Tracks abhebt. Überraschende Sirenenklänge und motorisches Brummen durchziehen das Stück und machen es zu einer reizvoll desolaten Erfahrung, die sich noch stark von den psychedelischen Noisetrips untrerschiedet, die es später von Hiroshi Hasegawas Astro, einem der Nachfolgeprojekte, zu hören gab. Solmania, ein Soloprojekt des Vermillion Sands-Musikers Masahiko Ohno, steuert mit “Derrick Master Switchback” eine brutale, destruktive Klangcollage bei, die von krächzenden Verzerrungen, metallener Beschaffenheit und hochfrequenten Tönen durchzogen ist. Dieses Stück bleibt im Rahmen des typischen Noise-Kosmos, wirkt jedoch in seiner rauen Direktheit besonders intensiv.

Mit “Empty~On The Move” des Quintetts Dislocation schlägt die Compilation eine experimentellere, elektroakustischere Richtung ein. Hier dominieren zunächst Klarinettensounds, die wie das Erforschen des Instruments anmuten, sich jedoch in ein infernalisches Feedback und gluckernde, atmosphärische Geräusche steigern. Dieses Stück erinnert eher an die Avantgarde-Ansätze von Borbetomagus oder früheren Nurse With Wound als an die typischen Exzesse des Japanoise. Monde Bruits’ “Continuum” kehrt zu einer typischen Harsh-Noise-Struktur zurück, unterbrochen von schmerzhaften Schreien und abrupten Pausen. Ironischerweise stellt der Titel eine klare Antithese zum Inhalt dar, der durch Diskontinuität und abrupte Brüche geprägt ist. Wenn man vom Schrei spricht, kann Masonna nicht weit sein, und der liefert mit “Testicles Candy Pt. 1~13″ eine wahre Lärmexplosion ab. Die eskalierenden Feedback-Stürme und hysterischen Schreie sind exemplarisch für Maso Yamazakis kompromisslose Ästhetik (deren eher fatalistische Seite heute ebenso kompromisslos von Controlled Death repräsentiert wird). Zwischenzeitlich eingefügte Stauungen verstärken die Wirkung der eruptiven Klanggewalt, die ungebremst alles mitreißt.

Violent Onsen Geisha sorgt für einen unerwarteten Bruch mit einem Stück, das mit mädchenhaftem Gesang und Schrammelgitarren der Marke Girlie Pop beginnt und durch Nakahara Masayas ironisches Falsett begleitet wird. Die Erwartung einer baldigen Noise-Entladung wird immer wieder unterlaufen, bis schließlich doch kantiger Lärm einsetzt. Dieser ironisch-absurde Zugang ist typisch für Bernhard- und Houellebecq-Fan Nakahara, der als Jess Franco des Japanoise unter seinem heutigen Künstlernamen Hair Stylistics und als in Japan längst renommierter Schriftsteller immer wieder das Abgründige in der Welt quietschbunter Barbiepuppen sucht. Den Abschluss bildet Incapacitants mit “Automatic Loss Cut”, einem hysterischen, prasselnden Stück, das die Sammlung mit einem Höhepunkt an kathartischer Intensität beendet.

Die “Noise Forest”-Compilation bleibt auch nach über dreißig Jahren ein Meilenstein dieses Genres, das noch nie eines sein wollte. Auch wenn man weitere Größen wie Hijokaidan, Govt. Alpha oder Grim, der wie in einem Zufallstreffer die Brücke nach Europa schlug, wo sich lärmaffine Musik ein Terrain mit Ritual und Neofolk teilte, vermissen mag, vereint sie die vielgestaltige Radikalität, die diese Musik seinerzeit ausstrahlte, und angesichts derer man der Apotheose durch das Magazin Louder Than War durchaus anschließen mag: “An unruly powerhouse of Japanoise arbiters. [...] Noise is sacred”. In diesem Sinne ist Cold Spring hier eine würdige Neuauflage gelungen, und sollten jemals die Coin Locker Babies verfilmt werden, wünsche ich mir die komplette Sammlung als Soundtrack. (U.S.)

Label: Cold Spring