POST SCRIPTVM: Seance

Post Scriptvm zählt man gemeinhin zum Industrial oder besser Post-Industrial, und so zutreffend diese Rubrizierung auch ist, sollte man gerade im Fall der beiden in New York lebenden Osteuropäer von jedem Schubladendenken absehen und die durchaus vielfältigen Einflüsse und Parallelen im Auge behalten, die das Duo verzeichnen kann. Zu den wichtigsten Inspirationsquellen für Post Scriptvm zählen philosophische Ansätze und diverse Kunst-Avantgarden aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, was sich nicht nur im Artwork, sondern besonders in der kollagenhaften Soundgestaltung von Alben wie  „Grey Eminence“ oder „Benommenheit“ abzeichnet. Diese Werke haben eine stark visuell-narrative Struktur und lassen Schauplätze entstehen, die an ein dunkleres expressionistisches Kino erinnern. Mit diesen labyrinthischen Klangschauplätzen stehen sie freilich auch in einer Reihe mit Musikern, die eine Generation zuvor vom Industrial ausgehend die interessantesten Seitenpfade kruder Musik erkundeten, namentlich Nurse With Wound, Organum, Doc Wör Mirran oder die eigenwilligen Kollaborationen von FM Einheit.

„Seance“, das gerade auf 193 handnumerierten und üppig gestalteten Vinlyscheiben erschienen ist, ist eine lange überfällige Zusammenstellung von Konzertaufnahmen aus der Zeit von 2003 bis 2014, enthält Stücke aus allen bisherigen Alben des Duos und zeichnet sich v.a. durch eine der Anordnung, aber auch dem klanglichen Feinschliff geschuldete Kohärenz aus, die weitgehend frei von Publikumsgeräuschen ein für Live-Zusammenstellungen seltenes Album-Feeling entstehen lässt. „Seance“ beginnt mit dem von russischen und französischen Samples durchzogenen „Tarantula Pattern“, dessen analoge Synthie-Spuren zunächst erratisch anmuten, die jedoch mit der Zeit und bei entsprechender Aufmerksamkeit demonstrieren, dass hier kein Ton beliebig gesetzt wird, dass die bedrohliche Atmosphäre der klanglichen Dunkelheit mit ihren vielen undefinierbaren Details – mögen es geheimnisvolle Hochfrequenzen oder an menschliche Stimmen erinnernde Loops sein – genau so beabsichtigt ist.

Das auf Grey „Eminence“ enthaltene „Upon Decadent Scum“ gestaltet sich live noch um einiges rauer und aggressiver, rein musikalisch bestehen nur entfernte Ähnlichkeiten zum Opener, und doch erreichen die kreisenden Distortions, die Shouts und das desolate Pulsieren der unkoordinierten Rhythmen eine perfekte atmosphärische Steigerung. Auch im weiteren Verlauf offenbart jeder Track einen eigenen Charakter, der zusammen das Post Scriptvm-Puzzle zwar nicht vollendet (denn das scheint mir bei einer mit derart vielen mysteriösen Leerstellen arbeitenden Band auch gar nicht gewollt), aber immerhin etwas besser vorstellbar macht. „Etherized Erosion“ ist subtilster Horror-Ambient ohne jede Schöngeisterei, „Ruins of Men“ ein hypnotischer Trip durch eine Hölle auf Erden, „Abortion of Memory“ tappt im Dunkeln einer klanglichen Rumpelkammer – um nur die m.E. stärksten Track zu nennen.

Man könnte „Seance“ aufgrund der Dunkelheit und der räumlich-narrativen Struktur als imaginäre Geisterbahnfahrt bezeichnen, doch das würde die Ernsthaftigkeit dieser Arbeit unterschlagen. Dann lieber dieses Fazit: Ich wünsche mir ein Konzert mit genau der Setlist, plus Zugaben natürlich. (U.S.)

Label: The Epicurean