Jeder weiß, was ein Placebo-Effekt ist, doch weniger bekannt ist, dass es diesen auch in einer negativen Ausprägung gibt. Mediziner sprechen dann von einem Nocebo-Effekt, wenn der Glaube eines Patienten an die Wirkungslosigkeit einer Behandlung so stark ist, dass die erhoffte Wirkung tatsächlich ganz oder in Teilen ausbleibt. In manchen Fällen von Resignation, die eine Begleiterscheinung vieler schwerer Krankheiten oder Verletzungen ist, kann dieser Zweifel geradezu intendiert sein.
Das von sägendem und rumpelndem Noise eröffnete Tape, das 9T Antiope jüngst unter diesem Namen herausbrachten und beim Berliner CTM-Festival zusammen mit visuellen Arbeiten des Künstlers Rainer Kohlberger uraufführten, lotet Momente dieses Wirklichkeit schaffenden Zweifels und des manchmal damit zusammenhängenden Rückzugs ins Koma aus und hat im Zusammenhang mit dem Tod des Bruders von Sängerin Sara Bigdeli Shamloo einen sehr persönlichen Hintergrund. Atmosphärisch ist es eine aufwühlende und zugleich beklemmende Angelegenheit, und als genau dies ist es wohl auch gedacht.
Ähnlich wie ihre mittlerweile über Hallow Ground veröffentlichte Kollaboration mit Siawash Amini ist die episodische Klanglandschaft, deren Zusammenhang nur durch die Kapazität der Tapeseiten unterbrochen ist, im Grenzland zwischen Wach- und Traumzustand angesiedelt. Doch das Hin- und Herrumpeln der bisweilen brachialen Sounds, der Baustellenlärm, das perfekt gestaltete Bohren, Sägen, Rattern und Gluckern wirkt noch bedrohlicher. In diesem Szenario wirkt Shamloos rezitierter innerer Monolog wie letzte Worte einer Kapitulation vor etwas, das auf (fragwürdige?) Namen wie Schicksal, Konsequenz, Realität etc. hört.
Aufblitzende Hochtöner (deren Effekt den Namen ihres Vorgängerprojektes Migrane Sq. in Erinnerung rufen) und ein monotoner, taktloser Rhythmus evozieren eine “klinische” Atmosphäre, in die destruktiven Sounds, die so explosiv wie niederdrückend wirken, misschen sich diffuse Echos akustischer Instrumentierung sowie Zitate religiöser Gesänge, und selbst das heftige Rauschen bekommt irgendwann einen etherischen Touch. Dieser lässt das Tape irgendwann (mit einem kleinen Hofnungsschimmer?) ausklingen.
Die aus Shamloo und Soundartist Nima Aghiani bestehenden 9T Antiope, deren Bandname wohl eine Abwandlung des Asteroiden (90) Antiope darstellt und zugleich auf verschiedene Figuren der Griechischen Mythologie zurückgeht, sind derzeit eine der vielversprechendsten und ideenreichsten Lärmformationen jenseits ausgetretener Szenepfade, wo man in verlässlicher Routine einem im Grunde saturierten Publikum gibt, was es begehrt, Verortungsversuche unter Ambient, Drone, Noise oder Industrial zielen letztlich ins Leere, auch wenn sie alle einigermaßen passen.
“Nocebo” knüpft an das vor knapp zwei Jahren erschienene “Isthmus” an und ist mit diesem als Teil einer Trilogie gedacht, deren Zusammenhang sich vielleicht mit dem dritten Part erschließt. Nicht nur darauf darf man gespannt sein. (U.S.)
Label: Purple Tape Pedigree