Musik zum Downloaden ist längst kein großes Ding mehr, sondern eher selbstverständlich. Während längst andere Säue durch die Dörfer getrieben werden, hat sich das Veröffentlichen im Netz seinen Platz an der Seite altbewährter Vertriebskanäle gesichert. Freilich trauert man gelegentlich den Zeiten hinterher, als es das alles noch nicht gab, und ist doch ohne Argwohn und spart sich den Ärger über den vermeintlichen Werteverfall postmaterieller Art. Stattdessen ist die Wertschätzung für prä-digitale Tonträger seit Jahren wieder im Wachsen, auch außerhalb der klassischen Nerdkultur wird wieder verstärkt Vinyl gekauft. Zeit, auch dem Medium Kassette mal wieder eine Referenz zu erweisen.
In einigen Genres hat die gute alte MC ihr Revival ja weniger nötig, aber auch im Postindustrial scheint es in Sachen Tapereleases wieder reger zuzugehen. Vor kurzem erschien auf dem japanischen Deserted Factory-Label ein Split-Tape, das unabhängig vom Medium aus der Masse dessen herausragt, was derzeit den Standard des Ambient und Noise ausmacht. Auf der ersten Seite, der sogenannten „bardoside“, tobt sich der russische Klangbastler Igor Potsukaylo alias BARDOSENETICCUBE aus. Das Austoben passiert vor allem anhand einer Vielzahl an diversen Klangaspekten, die Igors raue und von allerlei Störeffekten durchzogene Version des Ambient einmal mehr ausmacht, wobei sich in puncto Genrereferenzen ein gewisser Drang back to the roots bemerkbar macht. Songfragmente, rhythmische und zum Teil rockige Versatzstücke, die sich in den letzten Jahren vermehrt auf den Erzeugnissen des Petersburgers fanden, sind auf den drei Stücken stark reduziert oder völlig außen vor gelassen, zugunsten einer eher flächigen, dronigen Gestalt, wie man sie etwas entrückter von seiner „Rain in June“-7” (Drone Records) her kennt. Flächig meint hier keineswegs statisch, vielmehr ein unrhythmisches Durcheinanderfließen rauschender und grollender Klangschichten, die meist in Wellenform auf den Hörer zubrausen, einige Höhepunkte intensiver klanglicher Zusammenballung zulassen und in ihren gelungensten Momenten energisch nach vorn preschen. Aufwühlendes Geprassel einer Eislawine gleich, jede Menge Fieldrecordings und helle Soundgeflimmer machen die bardoside zu einem beeindruckenden klanglichen Panorama. Letztlich ist das ja doch nur Dark Ambient, könnte man sagen – meinetwegen, aber dann einer der intensiveren Art.
Die zweite Seite entstammt einer römischen Werkstatt und trägt den Titel „alienside“, was schon auf das Markenzeichen ihrer Erzeuger, eine „gatto alieno“ genannten Weltraumkatze verweist: Die drei Tracks sind quasi Familienerzeugnisse aus dem inner circle von Flavio Rivabella alias DER BEKANNTE POST-INDUSTRIELLE TROMPETER, an denen mit unterschiedlichen Zuständigkeitsschwerpunkten seine Partnerin XEENA und sein Sohn PUSIO beteiligt sind. Das erste “sin-phony 0? betitelte Stück bestreitet der seiner Trompete derzeit doch etwas untreue Flavio zusammen mit Rivabella jr, der eine klassische Musikausbildung genossen hat und sich erst nach und nach in die Bereiche einarbeitet, in denen sich sein Vater seit Jahrzehnten bewegt – erste gemeinsame Unternehmung war letztes Jahr die Neuinterpretation eines bekannten JOY DIVISION-Songs. Wellenförmige Synthieschichten bieten hier die gelungenen Hauptanknüpfungspunkte zu dem russischen Kollegen, wobei die Gestaltung noch ein gutes Stück heterogener ausfällt. Jede Menge Sounds, bei denen man wie schon bei Flavios „s.u.t.u.b.“ lange über ihre Ursprünge rätseln könnte, sind in Cutup-Manier montiert und prägen zusammen mit einer spacigen Orgel und eben so spacigen Retro-Keyboards das Bild: Schreie, das Geräusch von gegen eine Metallwand fliegenden Spänen, eventuell doch eine gesamplete Trompete? Das zweite Stück “sin-phony 00?, eingespielt mit Flavios Partnerin, die erst seit kurzem ihr ursprünglichen Gebiet, die angewandte Kunst, durch das Medium Sound erweitert, geht in Sachen Dröhnung über den Vorgänger hinaus und zeigt sich zugleich schwebender in der Struktur. “Sin-phony 000?, an dem alle drei beteiligt sind, kombiniert die Stärken der beiden Vorgänger und hält die intensivsten Momente bereit.
Beim ersten Hördurchgang könnte man die insgesamt sechs Aufnahmen fast für die Musik einer einzigen Band halten. Mit der Zeit kristallisieren sich aber trotz markanter Parallelen auffällige Schwerpunkte der einzelnen Musiker heraus, so dass man schlicht von Passgenauigkeit sprechen muss. Gerade auch im Fall von xXeNa und Pusio darf man auf weiteres gespannt sein. (U.S.)