AUTOPSIA: In Vivo

In Kreisen, in denen man den Industrial und all seine Folgeerscheinungen schätzt, gilt die im Jugoslawien der 80er in Erscheinung getretene Gruppe Autopsia durchaus als respektable Größe, gleichwohl ihr Ausnahmecharakter viel zu selten hervorgehoben wird. Im Autopsia-Kosmos, über dessen Ursprünge wenig bekannt ist und der schon seit den späten 70ern existieren soll, überlappten sich schon früh rhythmische, rituelle, martialische und klassikaffine Ausprägungen (post-)industrieller Musik, und das nicht im Sinne bloß vorläuferhafter Strukturen. Besonders beeindruckend ist dabei, dass viele Soundideen und Referenzen eigenartig und einzigartig waren und auch später kaum von den oft weniger kreativen Nachfolgern aufgegriffen wurden.

“In Vivo”, dessen Titel im Zusammenhang mit dem Bandnamen hoffentlich als Oxymoron gemeint ist, stellte 1988 (Korm Plastics / Sound of Pig) eine besondere Wegmarke dar und eignet sich aufgrund seiner Vielgestaltigkeit auch als Einstieg in die Welt des heute wohl in Prag ansässigen Kollektivs. Was schon in den ersten Stücken mit den gewohnt markanten Titeln “Fist Fuck” und “Kissing Jesus in the Dark” auffällt, ist die stets im Wandel befindliche rhythmische und klangliche Gestalt des zunächst aus rumpelndem Gedonner, grummeligen Sprachloops und verfremdeten Marschliedern im Chorgesang bestehenden Materials. “Relax”, dessen Titel herkömmlich gedacht kaum unpassender sein könnte, scheint den Klang gepeinigter Seelen und dessen, was sie peinigt, zu verschmelzen – ein verdreht im Raum schwebener, aufwühlender Sound, den man selten in ähnlich gearteter Musik findet, und aus dem sich wie von Zauberhand monströses Grollen herausschlängelt.

Wenn man mag, kann man einige der Stücke bestimmten Richtungen innerhalb des Autopsia-Werkes, wie es sich zum Teil auch erst in der Folge herausbilden sollte, zuordnen. “11th Enochian Key” verkörpert einen subtilen Ritualismus, der sich in Andeutungen genügt und so auch die Frage nach der Tiefe eines etwaigen Gedankengebäudes dahinter umgeht. Gerade die Live-Versionen der von gesampleten Chören und Looptechnik geprägten Stücke “Scars of Europa” und “Does The Knife Cry When It Enters The Skin” verkörpern mit ihrer elektrisierenden Euphorie den hymnemhaften Charakter Autopsias wie wenige andere Aufnahmen aus dieser Zeit. Völlig outside the box ist das kurze “Ignis”, dessen furchteinflößend quakende Sounds zum Treibstoff reißerischer Bewegung werden.

Das schlägt dann die Brücke zu denjenigen Tracks, die fast all diese Komponenten vereinen: das 17-Minutenstück “Lebensherrgabe” mit hektischem Summen, mit Fanfaren und stoffeligen Takten als Keim komplexer Polyrhythmen. Nicht zuletzt “Palladium” mit seinem snarigen Auftakt, der an eine Hinrichtung oder den Aufmarsch einer Garde erinnert und dessen orchestraler Schluss seinen dramatischen Fortsatz in “Aqua Permanens” findet, das aus einem Monumentalfilm gefallen sein könnte.

All dies sind Klänge und Ideen, die perfekt in das Lebensgefühl der damaligen Zeit gepasst haben, die (Subkultur-)Geschichte geschrieben haben und mit der Zeit trivialisiert worden sind, und deren Abklatsch heute zwangsläufig von anders gearteten, in der Mehrzahl wahrscheinlich vulgäreren Charakteren produziert wird. Hat ein Werk wie “In Vivo” also heute eine über das historische Interesse hinausgehende ästhetische Relevanz? Ich würde die Frage bejahen, dabei aber dieses historische Interesse voraussetzen – und somit die vor einigen Monaten erschienene Tape-Edition mit zwei rumpelnden, samplebasierten Bonustracks begrüßen.  (U.S.)

Label: Korm Plastics D