Sehr szenisch beginnt diese Hommage an den „Big Mango“, wie die Ägypter ihre Haupttadt in Anlehnung an den „Big Apple“ New York nennen, und wenn man den vielen Berichten über die Stadt glaubt, dann ist der beste Einstieg in der Tat, sich relativ orientierungslos ins wilde Treiben zu stürzen. In dem Film, der hier vor geschlossenen Ausgen abläuft, erweist sich die Metropole Al-Qāhira ihrem Ruf entsprechend als Ort solch kruder Gegensätze, dass sich die heterogenen Eindrücke kaum auf etwas Typisches, auf einen verbindlichen Kern reduzieren lassen. Es sei denn, man versteht darunter die Heterogenität selbst und die Geballtheit der Herausforderungen an die Sinne.
Die ersten Momente des eröffnenden „Faint Praise“ vermitteln dem Hörer ein (je nach Naturell unangenehmes oder lustvolles) Gefühl des Indiskreten, der relativen Distanzlosigkeit, ausgelöst durch die liebestrunkenen Stimmen eines unsichtbaren Paares und der Vorstellung einer allzu dünnen Zimmerwand. Doch ihr Stöhnen ist nur Teil eines viel umfassenderen Stimmen- und Geräuschmosaiks, in dem die Klänge von Motoren, von fließendem Wasser, von Gesprächsfetzen und Tierstimmen zu einem Orchester anschwellen, das jederzeit in der Lage wäre, sich ins Grenzenlose auszuweiten, würden Land of Kush nicht das Heranzoomen von Ausschnitten bevorzugen. Wäre es nicht so bar jeder Beklemmung, dann könnte es sich mit den Großstadtbildern deutscher Expressionisten messen, die unsere heimischen Metropolen in ähnlich ungewissen Zeiten in grellen Worten und Farben porträtiert haben.
Unter einer Hommage an Kairo hätte man vor wenigen Jahren vermutlich noch einen musikalischen Reiseführer erwartet, mittlerweile wohl eher einen Kommentar über die vielen nach wie vor unberechenbaren Umwälzungen mit all ihren sozialen, religiösen und ideologischen Zerwürfnissen. „The Big Mango” ist keines davon und transportiert doch das beste, das man aus einem Kulturpanorama wie aus einem ungeschminkten Bild realer Zustände ziehen kann. Allem voran vermittelt das Album eine Synthese aus einheimischen und „westlichen“ Blickwinkeln. Sam Shalabi, der Gründer des Großprojektes, ist für deratige Überblendungen prädestiniert. Geboren in Alexandria pendelt er seit Jahrzehnten zwischen Ägypten und seiner zweiten Heimat Kanada, ist Teil der Montréaler und der Kairoer Musikszenen.
Nahezu alle der über zwanzig Teilnehmer des Projektes sind KanadierInnen, was Land of Kush in gewisser Weise zum spiegelverkehrten Pendant von Alan Bishops The Invisible Hands macht. Doch bei den meisten Stücken setzt sich die Melange aus freien Versatzstücken des Jazz, des Rock und diverser (nord-)afrikanischer Stilrichtungen neu und mit unterschiedlicher Gewichtung zusammen. Verschiedene Orte, auch außerhalb der Nilmegalopole, schreiben an den Stücken mit. „Second Skin“ wirkt mit seinen dramatischen Pianoparts anfangs wie klassische europäische Barmusik, es ist vom schweren Pathos der leichten Muse durchdrungen, doch Klarinetten und ein summendes Saxophon lösen es bald im Abstrakten auf.
Der Titel lässt an Kleidung denken, vermag die Diskussion über Kleidungsvorschriften muslimischer Frauen in Erinnerung zu rufen, vielleicht auch deshalb, weil das Geschlechterthema in den Texten immer wieder anklingt, und die meisten Gesangspassagen auch von Frauen bestritten werden. Manchmal meint man in all dem jazzigen Vorantasten, zwischen wabernden Bläsern und entgrenzten brasilianischen Rhythmen sogar das Echo von Kate Bush zu hören.
Warum all dies in Kairo? Vielleicht weist die beste Antwort darauf hin, dass dies schlicht Realität ist. Europäer und Nordamerikaner neigen beim Anblick orientalischer Städte dazu, das Fremde zu sehen, und automatisch fällt der Blick dabei auf „Kulturelles“: Die Musik, die Architektur, das Design und natürlich auch die Religion mit ihren Normen und Bräuchen. Versucht man einmal darauf zu achten, wie viele Aspekte im medialen, technologischen und wirtschaftlichen Alltag die gleichen Wurzeln haben wie die Dinge unseres Alltags, erscheint einem der Gegensatz zwischen Orient und Okzident, zumindest als Dichotomie, schon geringer, wenn nicht fiktiv. Plötzlich fällt einem auch im kulturellen Bereich – von der Markenjeans bis zur Popmusik – viel Internationales auf. Auch Bandleader Shalabi ist in vieler Hinsicht international geprägt. Nicht nur, weil er vor Jahren seinen Vornamen von Osama in Sam ändern ließ.
Label: Constellation Records