In Tripoli, im Norden des Libanon, liegt ein Ort, der zugleich Symbol für Fortschrittsutopien und für das Verharren in einem Zustand des Nichterfüllten geworden ist: der unweit des Meeres und der historischen Altstadt gelegene unvollendete Kuppelbau des Rachid Karami International Fair. Entworfen 1962 von dem hierzulande durch das Berliner Hansaviertel, v.a. aber durch die repräsentativen Bauten der brasilianischen Hauptstand bekannten Oscar Niemeyer als Teil eines weitreichenden Plans zur wirtschaftlichen Dezentralisierung des Landes, blieb die imposante Halbkugel nach Beginn des Bürgerkriegs ein Torso: baulich nie vollendet, akustisch unbehandelt, funktional ungenutzt. Gerade diese Unabgeschlossenheit aber macht den “Dome” zu einem Raum, in dem das Potenzial des Ungesagten, des Zwischenraums, erfahrbar werden kann. Seine Architektur erzeugt eine unverwechselbare Akustik, in der sich Schall nicht nur ausbreitet, sondern verflüchtigt, bricht, zurückkommt.
“The Dome Sessions”, die neue Compilation des libanesischen Labels Ruptured Records, reagiert nicht nur auf diesen Raum, sondern setzt sich, wie auch in den Liner Notes von Wassila Abboud erörtert, mit ihm in Beziehung. Die elf Sessions, die im April 2023 vor Ort aufgenommen und später in den Tunefork Studios in Beirut abgemischt wurden, lassen sich als akustisches Protokoll einer künstlerischen Aneignung verstehen. Das kollektive Moment ist dabei zentral: Musikerinnen und Musiker aus unterschiedlichen Kontexten und Generationen begegnen sich in diesen Aufnahmen auf Augenhöhe, reagieren aufeinander, auf die Architektur, auf das Vergangene, das Gegenwärtige, das geisterhaft Verborgene. Auch auf das, was in Worten unbeschrieben bleiben muss.
Die erste Session – ein Stück des Trios Sandy Chamoun, Abed Kobeissy und Pascal Semerdjian – beginnt mit Vogelstimmen, wie sie immer wieder leitmotivisch durch das Album ziehen. Eine Art perkussiver Donner kündigt sich an, rätselhafte akustische Miniaturen – Rasseln, Hupen, Triller –, dann setzt Chamouns unverwechselbarer Gesang auf Arabisch ein. Die Instrumentierung ist minimalistisch, doch der Ausdruck ist enorm. Die Dramaturgie des Stücks lebt von ihrer inneren Bewegung: mit wenigen Mitteln entstehen immer neue Motive, zum Ende hin steigert sich das Stück kraftvoll, beinahe eruptiv, ohne dabei die unaufgeregte, klare Stimme Chamouns auch nur ansatzweise zu tangieren. Makram Aboul Hosn präsentiert zwei solistische Kontrabass-Stücke. Der erste Teil ist geprägt von einer durchlässigen, atmenden Dynamik, das Tempo verändert sich scheinbar mühelos, der warme, holzige Klang des Instruments bleibt stets präsent. Im zweiten Teil dann ein energischeres, beinahe rabiates Spiel mit dem Bogen, ein starker Kontrast zum ersten Teil, der schließlich wieder zurückgeführt wird: ein kreisförmiger Aufbau, ein hörbarer Kraftakt.
Abdo Sawma und Anthony Tawil schaffen in ihrer Session eine verdichtete Atmosphäre, die sich von leiser Perkussion zu einer hallgeladenen, beinahe monumentalen Klangfülle steigert. Es ist ein Stück, das sich Zeit nimmt und zugleich große Intensität entwickelt. Ghassan Sahhab nutzt die Qanun – eine arabische Zither – für ein Stück, das archaische Melodik mit flirrender Leichtigkeit verbindet. Die Komposition wirkt nicht wie ein statisches Gebilde, sondern wie ein Gespräch: suchend, fragend, dabei aber stets getragen von innerer Kraft. Der Wechsel zwischen tastender Offenheit und kraftvoller Harmonie verleiht dem Stück eine besondere Tiefe.
Wassim Tanios – möglicherweise identisch mit dem gleichnamigen Regisseur – kombiniert eine dröhnende Grundstimmung mit subtilen Holzbläser- und Elektronikklängen. Die hier wohl verwendete Nej, ein traditionelles Doppelblattinstrument, verleiht dem Stück eine melancholisch-transparente Qualität. Es ist eines der emotional eindringlichsten Stücke der Compilation. Julia Sabras Beitrag ist eines der wenigen textbasierten Stücke. Ihre klare, folkige Stimme steht zunächst allein im Raum, bevor sie vom Strumming einer schlichten, aber feierlichen Akustikgitarre begleitet wird. Die Lyrics sprechen von der Unsicherheit der Zeitlichkeit und von einer drohenden Verlorenheit – und tun dies mit einer Sanftheit, die umso eindrucksvoller ist. “Girls and boys dancing around a corpse”, heißt es an einer Stelle – eine Zeile, die hängen bleibt.
Farah Kaddour greift mit ihrer Buzuq auf Mittel zurück, die schon ihr vor kurzem erschienenes Album “Ghazel” mit Marwan Tohme prägten. Doch hier wirken die Sounds noch entschiedener auf den Raum bezogen: Windgeräusche, das gelegentliche Aufbrausen des Instruments, das irrlichternde Spiel mit Tonhöhen und Rhythmen erzeugen ein Stück, das nie berechenbar ist, dabei aber stets kohärent bleibt. Der klangliche Zugriff erinnert an Roland Barthes’ Idee einer Schrift ohne festes Alphabet – ein auditives Reich der Zeichen. Marc Ernest beginnt mit vertrauten Vogelstimmen, bevor eine tubaartige Klangfigur einsetzt. Die Musik changiert zwischen Struktur und Offenheit, die Melodik ist ornamentiert, ohne überladen zu wirken. Das Stück bleibt schwer zu fassen, was Teil seiner Qualität ist. Der Fayha Choir, dessen Beitrag über zwölf Minuten geht, bringt mit “Zahrat al-Mada’en” ein ursprünglich für Fairuz geschriebenes Stück in den Kuppelraum. Die liturgisch anmutende Wucht dieses Chors, verbunden mit den akustischen Eigenheiten des Ortes, macht dieses Stück zu einem der ergreifendsten des Albums.
Den Abschluss bilden Charbel Haber, Anthony Sahyoun, Fadi Tabbal und Marwan Tohme. Ihr Stück wirkt wie ein epilogartiges Resümee: Geräusche, Stimmen, Saitenklänge, Dröhnen und Rasseln überlagern sich, ohne je in bloße Klangfläche zu kippen. Der Sound bleibt greifbar, vielschichtig, melancholisch – bis am Ende eine versteckte Sirene erklingt, fast unmerklich, wie ein Echo auf die vielen unvollendeten Kapitel dieses Ortes.
“The Dome Sessions” ist ein gemeinschaftliches Projekt, das klanglich z.T. weit auseinanderliegende Positionen miteinander in Beziehung setzt, ohne sie zu glätten. Jedes der Stücke würde auch isoliert bestehen, doch im Kontext des Niemeyer-Domes, dessen sinnlicher Erfahrung sie hier einige neue Perspektiven gegeben haben, gewinnen sie zusätzliche Dimensionen. Die Compilation ist kein museales Dokument, sondern ein lebendiger Kommentar zu einem Ort, dessen Bedeutung sich weniger aus dem ergibt, was er ist, als aus dem, was aus ihm gemacht wird.
Label: Ruptured