Die sechzehn auf zwei CDs verteilten Tracks von „Dead Whorse Riddles“ (das Schachtelwort aus „whore“ und „horse“ verwendete Williams später als Titeltrack („Whorse“) als auch als Albumnamen („The Whorse’s Mouth“)) knüpfen an die bisher veröffentlichten Alben der „Lost Recordings“-Serie an, transzendieren sie aber auch zugleich: „The Nature of Pain“ schafft es durch das Zusammenspiel von Loops eine intensive Klangfläche zu erzeugen, in der die einzelnen Elemente sich zu einem Gesamten verdichten, das wie so oft bei Williams eine Atmosphäre der latenten Bedrohung ausstrahlt. Am Ende findet man einen Auszug aus Charles Lindberghs Aufruf an die USA sich nicht in den Zweiten Weltkrieg hineinziehen zu lassen; diese isolationistische Haltung hat natürlich durchs Lindberghs eher virulenten als latenten Antisemitismus (vgl. die Alternativhistorie, die in Philip Roths Roman „The Plot Against America“ entfaltet wird) einen schalen Beigeschmack. „Partial and Complete“ ist ein unruhiges, unangenehmes von Sprachsamples durchzogenes Stück: Hier meint man oftmals, gleich schaue Leatherface um die Ecke. „Red“ oder auch „Atrophy“ erinnern etwas an (die nicht mehr ganz so brachialen) SPK zur Zeit von „Leichenschrei“: Insbesondere letztgenanntes Stück ist eine zehn Minuten lange tour de force aus langen Interviewpassagen, schabenden Geräuschen und im Hintergrund verhallenden melodischen Momenten: Das (in beiderlei Hinsicht zu verstehende) Vorführen der/des Defizitären und Marginalisierten ist ambivalent und (dadurch) besonders beklemmend. Auf anderen Tracks herrscht Fabrikhallenatmosphäre („Transillumination“), man hört eine Art Orgeldrone, der bar jeden sakralen Charakters ist (unbetiteltes drittes Stück der zweiten CD), andere Stücke nähern sich dem Ambient an und haben Soundtrackcharakter. Ein Titel wie „The Most Astounding Living Monstrosity“ lässt vor dem geistigen Auge ein „Schreckenskabinett des Dr. Williams“ entstehen, in dem Deformationen aller Art zur Schau gestellt werden. Das Stück „Salvation, Deliverance, Prayer For The Sick“ kann dann nur noch zynisch verstanden werden, denn von Heilung und (Er-)Lösung ist diese Musik weit entfernt. Und erneut machen Titel wie „Fistula in Ano“ (ein recht industriell klingendes Stück) deutlich, dass es hier wieder um den Menschen in all seiner Kreatürlichkeit geht – diese „Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch -: / Geht doch mit anderen Tieren um!: Mit siebzehn Jahren Filzläuse“.
Waren auf den bisher veröffentlichten Aufnahmen viele minimale, rudimentäre, unfertig wirkende Experimente, so klingen die aus etwa Mitte der 80er stammenden Aufnahmen – von denen sich einige schon auf anderen Veröffentlichungen (u.a. auf „Anasthesia” und „Body of a Crow“) fanden – hier um einiges im durchaus positiven Sinne ausgestalteter, fertiger, ausdifferenzierter und machen „Dead Whorse Riddles“ sicher zu einer der musikalisch stärksten Veröffentlichungen aus der Reihe der „verlorenen Aufnahmen“.
Das gesamte Album ist ein Soundtrack für eine Welt, in der der immer am Rande des Existenzminimums und von Alkohol- und Drogenabusus geplagte Williams die Kehrseite(n) des amerikanischen Traums vertont. Diese atonale, gegen den Strich gebürstete Musik ist vielleicht Widerspiegelung als auch Versuch des Widerstands gegen die wahrgenommenen Widersprüchlichkeiten. Das war bei Williams sicher nie reflektiert politisch, sondern (s)eine ganz subjektive Sicht auf die menschlichen Katastrophen inmitten der permanenten Verheißungen – manchmal vielleicht auch eine exhibitionistisch-zynische (Re-)Präsentation der Deformationen. Wie grotesk mag manches Williams vorgekommen sein, der bezeichnenderweise nicht nur die meiste Zeit im verheißungsvollsten Staat der USA (in der Terminatoren dann auch im richtigen Leben Menschen terminieren können) lebte, sondern später zur Zeit des zweiten Shadow Project-Albums mit Eva O. in Las Vegas wohnte – der Glitzerstadt inmitten der Wüste, ein künstlicher Ort, den Paradies zu nennen, doch mehr als anmaßend ist. „Fear and loathing“ mögen da Gefühle gewesen sein, die aufkamen.
Passend zur Musik dann das Anatomiecover, das die Freilegung, die Exhumierung der menschlichen Katastrophen angemessen widerspiegelt.
(M.G.)
Label: Cathedral Music