OTHON: Impermanence

Drei Jahre nachdem Othon Mataragas sein Debüt „Digital Angel“ auf David Tibets Label Durtro veröffentlichte, folgt mit „Impermanence“ der schon länger angekündigte Nachfolger. Zwei der Sänger, die das Debüt entscheidend (mit)prägten – Ernesto Tomasini und Marc Almond -, spielen auch auf dem neuen Album eine zentrale Rolle. Vor einigen Monaten kündige Othon an, dass seine künftigen Werke alle unter dem Motto „PAN muzik“ stünden, dabei äußerte er sich jüngst in einem Interview mit dem Magazin Exeunt zum gewählten Begriff: „Pan transcends all styles and limitations. Pan is also the Greek God of the wilderness and of revolt, of sexual pleasures and of human nature.“ (man denke auch an die „Hymn to Pan“, die der in Hastings verstorbene Autor des auf „Digital Angel“ vertonten „Tango Songs“ verfasste).

Diese zwei Aspekte finden sich fortwährend auf dem Album: musikalisch in der Verbindung von Pop und Klassik, Moderne und Barock und textlich im Changieren zwischen Romantik und Transgression, einer Fokussierung auf das Leben auf der nächtlichen Straße, wie es z.B. auf „At Night“ entfaltet wird. Tomasini singt dieses Stück, das textlich wie musikalisch auf Marc Almonds „Mother Fist“-Album sicher nicht deplatziert gewesen wäre. Das lyrische Ich durchstreift Straßen, trifft (auf) „Fremde“, „Liebe“ und „Verbrechen“, nicht zu vergessen „muskulöse Körper“ und verwandelt sich des Nachts in einen „Helden“, dessen Aktivitäten sich in „Betten“ wie in „Toiletten“ abspielen – letztlich geht es um nicht weniger als um „rituals of death and of life“ und es findet ein expliziter Verweis auf den flötenspielenden Gott der alten Griechen statt: „We offer ourselves to the Pan of the night“. Das ist natürlich ein Territorium, das das von Genet mehr als nur partiell streift (im Hintergrund des von Hector de Gregorio – der über sich selbst sagt: „I am interested in European Art and how the idea of ecstasy is produced in many styles“ - gestalteten Covers sieht man inmitten der magischen Landschaft ein Schiff, auf dem vielleicht Qurerelle weilt). Tomasini hält sich hier beim Vortrag zurück, reizt noch nicht alle Facetten seiner Stimme aus.

Das narrative „A Trip to Paradise“ wird vom Neuzugang, der irischen Sängerin und Schauspielerin, Camille O’ Sullivan gesungen: Der Fremde, der (natürlich „spät in der Nacht“) getroffen wird, fordert, ihn zu einem „ruhigen, einsamen Strand“ zu bringen, ins „Land des Paradieses“, einen Ort, an dem kurz gefasst „love is all there is to be“. Diese utopische Vision, die in dem Song, der im Rahmen des Albums vielleicht der leichteste ist, ausgebreitet wird, wird von Klavier und dezenten Streichern (die auf fast allen Stücken von dem auf Musik des 20. Jahrhunderts spezialisierten The Elysium Quartet gespielt werden) untermalt. In „The Fall“, der Vertonung eines Sonetts des baskischen und inzwischen in London ansässigen Künstlers und „nackten Dichters“ Ernesto Sarezale, wird der schwer verletzte Fremde, der in einer Lache aus Blut und Sperma liegt und eine fremde Sprache spricht, in der letzten Zeile als gefallener Engel enthüllt. Tomasinis Stimme changiert hier zwischen hysterischem Falsett und der Reinheit eines Cherubs.

Das instrumentale „Mystery Star Dance“ kombiniert Klavier mit Cello, dabei erinnern kurze Melodiepassagen etwas an Carpenters „Halloween“-Score. „All Too Soon“ ist das erste Stück, auf dem Othon selbst den Gesang übernimmt und sich den Erinnerungen an die Kindheit, an einen Jugendfreund und die Suche nach dem „postromantischen Traum“ hingibt, wobei die beiden hier beschworenen „Straßenjungen“ schon damals nach der Transzendenz des Exzesses suchten, nach „life’s next ultimate kick“. Der scheinbar verstorbene Freund wird am Ende mit Hilfe der Totenstellung des Joga wiedergetroffen. „59“ wird wieder von Tomasini gesungen, die textliche Antithetik zwischen „Mars and Venus“, „Cum and die“ oder „Yin and Yang“  spiegelt sich musikalisch im Wechsel von dramatischen Streichern und reduziertem Klavier wider und Tomasimis Stimme darf viele Oktaven durchwandern (insgesamt erinnert „59“ etwas an das experimentelle dreiteilige Titelstück des Debüts). Das dann folgende „A Little Dream“ nimmt die Dramatik etwas zurück und ist die vielleicht unvermeidliche, leicht melancholische Hymne auf den „Jungen in der Straße“, der hier natürlich ein Messer hat und der dem lyrischen Ich, das erneut von Tomasini verkörpert wird, den „schockierendsten“ und „gewalttätigsten“ seiner Träume erzählen soll.

Die nächsten zwei Stücke werden von Marc Almond gesungen: Auf „Impermanence“ spielt als Gast Justin Jones von And Also The Trees Gitarre und auf „Last Night I Paid To Close My Eyes“ intoniert Almond zu musikalischer Untermalung, die den Hörer, in einen verrauchten Ballsaal transportiert, das Grausame der Liebe. Abgeschlossen wird das Album von der von Tomasini gesungenen Version des Titelstücks, das vom Erkennen der Veränglichkeit des Fleisches („The body withers and dies“) und der Liebe handelt („All love withers and dies“), aber gleichzeitig auch von der Weigerung dies zu akzeptieren („But I deny to believe/I deny to accept/The impermance of it all“). Das erinnert an Dylan Thomas’ „Do not go gentle into that good night“, in dem dem sterbenden Vater entgegenrufen wird: „Do not go gentle into that good night./Rage, rage against the dying of the light“. Das durchgängig im Falsett vorgetragene und von einer Orgel untermalte Stück ist vielleicht eines der ergreifendsten Stücke Musik, das in den letzten Jahren entstanden ist. Wer hier nicht ein tiefes Erschauern angesichts des Wegs allen Fleisches verspürt, der hat seine psychischen Abwehrmechanismen aufs Höchste perfektioniert. All das geschieht auf bloß 38 Minuten und die Frage, ob der Künstler am Anspruch des Konzepts scheitert, muss hier verneint werden. „Cast the spell/Blow the mind“ heißt es auf „59“. Das ist mit diesem Album gelungen.

(M.G.)

Label: SFE