NIEDOWIERZANIE: Attendre

Immer wenn man denkt, atmosphärische elektronische Musik sei nun endgültig an ihrem Ende angelangt und friste ein überwiegend epigonales Dasein, stößt man unvorbereitet auf eine Platte, die so gar nicht langweilig und verbraucht klingt und es im Handumdrehen schafft, dass man alle Vorurteile wieder über Bord wirft. „Attendre“, das zweite Album dieses Projektes mit dem polnischen Namen, den ich mir nie länger als zehn Sekunden behalten kann, ist so ein Fall. Niedowierzanie, wie der in Deutschland lebende Franzose Léo sein musikalisches Medium nennt, steht für warme, erdverbundene Klänge und ein ausgesprochen weites Raumgefühl, für dezente, zum Teil melancholisch eingefärbte Exotik und gut durchdachte Kompositionen.

Von der Ausdrucksweise her scheint Niedowierzanie einem magischen Realismus verpflichtet zu sein – insofern, dass ein magischer, ästhetizistischer Grundtenor untrennbar verwoben ist mit allgegenwärtigen Fragmenten der Realität, die fesselnde, stets mit Andeutungen arbeitende Geschichten erzählen. Den vielfältigen, teils folkloristisch eingefärbten Klangzitaten nach zu urteilen spielen diese an ganz unterschiedlichen Orten der Welt. Vielleicht entsteht aus den sonoren Erzählfragmenten die Lebensgeschichte eines Reisenden, dessen Weg irgendwo im Osten Europas beginnt. Er scheint von einer Sehnsucht getrieben zu sein, die intensiv und doch keineswegs sentimental ist. Beflügelt durch Erzählungen der Roma gelangt er irgendwann an die Küste des Mittelmeeres und über die Iberische Halbinsel verschlägt es ihn schließlich nach Südamerika, wo er irgendwo in den Höhen der Kordilliere seinen Lebensabend verbringt. Doch vielleicht ist dies auch nur die Fantasie eines Hörers, der zu sehr in Sound und Artwork von „Attendre“ abgetaucht ist. Rein faktisch bricht sich die Wirklichkeit Bahn in Form von schabenden Sounds, die sich beim Opener inmitten von verhalltem Rauschen bemerkbar machen und entfernt an menschliche Stimmen erinnern, bis sie einer geheimnisvollen Perkussion das Feld überlassen, die aufgrund ihrer Distanz fast desolat wirkt und ihre Ekstatik nur andeutet. Weiter hinten drängen die Alltagsgeräusche unter einer einlullenden Dronefläche und dem smoothen Spiel einer Trompete hervor, und auch hier kann man sie kaum einer bestimmten Klangquelle zuordnen. Man fragt sich, was für Tagesreste sich da in den seltsamen Traum hineingeschlichen haben, der sich wunderbar als kontemplative Siesta kaschiert. Generell ist die Musik eingängiger als auf früheren Aufnahmen des Künstlers, auch wenn die strukturellen Arrangements immer eine leicht unvorhersehbare Note beibehalten, zum Teil Tonfolgen in Erwartung stellen, die dann verweigert werden. Doch zu wirklichen Dissonanzen gerinnt das nie, selbst bei Bläserchaos und sirrenden Noisemomenten.

Die Trompete ist nicht das einzige „echte“ Instrument, dass der Künstler, vom Label als Multiinstrumentalist apostrophiert, den manipulierten Synthieflächen und den zahlreichen Samples zur Seite stellt. Zu einem großen Teil geben sie Assoziationen zu traditioneller romanischer Musik Raum, in ihrer Diversität könnte man glatt von Weltmusik sprechen, wäre der Begriff nicht so hoffnungslos verbraucht. Neben nie einwandfrei klassifizierbaren Instrumenten, die auf gezupften oder per Tastenanschlag stimulierten Saiten basieren, sind vor allem Akkordeon und Cello prominent, sie geben der Musik einen erdigen, souveränen Klang und sorgen mit für ihre flächig-dröhnende Gestalt. Dennoch gibt es auch Passagen, in denen sich die Musik aus der Horizontalen erhebt, und verhaltene Rhythmen Bewegung ins Szenario bringen, im leicht jam-artigen Titelstück hat dies einen zitathaft angedeuteten Jazzcharakter, und zusammen mit dem unmittelbaren Pathos der Melodien denkt man an die südamerikanische Version eines Badalamenti, der mit seinen ätzend-aufreizenden Trompetenklängen so manchen Doomjazzern das Fürchten lehrt – nur um dann wieder zu verschwommenen, melierten Drones zurück zu kommen, die ihre Klimax im großartigen Finale „Soleil Rouge“ finden.

Ich empfehle die schön gestaltete LP, die schon vor ein paar Monaten erschienen ist, weil sie immer noch bei diversen Mailordern geführt wird, aber bei einer Stückzahl von unter zweihundert handnummerierten Exemplaren wird das sicher nicht lange so bleiben. Eine Diskussion zu Sinn und Unsinn des programmatischen Limitierens von Longplayern will ich hier nicht vom Zaun brechen – ganz basal mag dies Fragen der Realisierbarkeit geschuldet sein, und als Statement gegen die PR-Mentalität einer ordinären Kulturindustrie hat eine Musik, die erst einmal gefunden werden will, etwas durchaus Sympathisches. Wenn der neugierig durch unentdecktes Land driftende Musiksucher jedoch, fernab klar definierbarer Millieus und dem oben beschriebenen Reisenden vielleicht nicht unähnlich, dann feststellt, dass sich sämtliche Exemplare schon in den Händen einer exklusiven wie kalkulierbaren Zielgruppe befinden, ist das schon schade. Dies und die Frage, wann in bestimmten Szenen das Sammeln wichtiger wird als das Hören, lässt bei mir gelegentlich das Schlagwort von der Inflation des Raren auf der Zunge jucken. „Attendre“ jedenfalls wünsche ich gehört und nicht gehortet zu werden.

Label: RuR