2003 arbeiteten Anemone Tube und Christian Renou (Brume) erstmals auf „Transference“ zusammen und erschafften ein Album, das trotz unterschwellig unruhiger Momente eine (be)ruhige(nde) Melancholie ausstrahlte. „A Year to Live“ knüpft bedingt an dieses Album an, geht allerdings auch darüber hinaus. Wer die rabiaten und (sowohl musikalisch als auch konzeptionell) dichten, auf Feldaufnahmen basierenden letzten Anemone Tube-Aufnahmen im Kopf hat, wird nachvollziehen können, warum mit Oublier Et Mourir ein anderer Projektname gewählt wurde, denn schon das Eröffnungsstück „A New Thought Is Born, Another Will Arise“ macht deutlich, dass die Musik und die erzeugte Stimmung weit von den Aufnahmen der „Suicide Series“ entfernt sind. Der Track erzeugt aus melodischen, organisch-warmen Soundflächen einen Track der im Rahmen dieses Albums fast schon symphonischen Charakter hat. „Ocean Of Melodious Songs“, dem sechsten Dalai Lama gewidmet, ließe sich vielleicht paradigmatisch für die Ausrichtung Oublier Et Mourirs lesen, denn die an Orgel und Piano erinnernden und aus repetetiven Mustern bestehenden Klänge lassen vor dem inneren Auge durchaus ein Meer entstehen. William Basinksi sagte einmal über seine Musik, sie sei „fruchtwasserig“ und „Ocean of…“ klingt manchmal so, als hätte er sich auf „A Year To Live“ mit Monos und David Jackman zusamengetan. „Oublier et Mourir“ geht in eine ähnliche Richtung, wobei hier Wind durch die aus warmen Synthesizerflächen bestehende Landschaft zu wehen scheint. Die hier hervorgerufene sanfte Melancholie, die vom „Sturm aus dem Nichts“ (J. G. Ballard) unterstrichen wird, erzeugt ein Wechselspiel vom Bewusstsein der (eigenen) Vergänglichkeit und einem Aufgehobensein in den Klängen. Das passt zum Albumtitel, der auf ein Buch von Stephen Levine verweist, in dem es darum geht, den Tod einzuüben, um sich der Schönheit des Lebens zu vergewissern. Der vierte Track „A Year To Live (Practice Dying)“ ist dann die eigentliche Zusammenarbeit zwischen beiden Künstlern: Oublier Et Mourir lieferte das Ausgangsmaterial, das dann von Christian Renou bearbeitet („dekonstruiert“, wie es im Prerssetext heißt) und schließlich dann wieder von Oublier Et Mourir gemixt wurde: Möwen scheinen zu schreien, Wellen rauschen, der Lama lässt die Gebetsglocken läuten und auch hier wird mit repetetiven Mustern gearbeitet, um eine meditative, tranceartige Atmosphäre zu erzeugen, die stimmungsmäßig gar nicht so weit von Tor Lundvall entfernt ist. Das ist eine im besten Sinne des Wortes tatsächlich umfassende Hör(er)erfahrung.
Die fünf Teile von Brumes „A Simple Way“ sind dagegen wesentlich reduzierter und weisen gleichzeitig interessanterweise partiell Songstrukturen auf. Auf Teil 1 hört man verfremdete Stimmen und dezentes Dröhnen (das etwas an die Hydrophonien Asmus Tietchens’ oder an den Werkbund erinnert), schließlich wird das Motto verkündet: „You cannot imagine how things have become simple“. Hier bricht das Mysteriöse, Irrationale in die scheinbar „simple“ Welt ein. Auf Teil 2 kommen zu den Drones ein Schlagzeug und schleppende Perkussion hinzu, eine Stimme zählt und man erwartet fortwährend, dass jetzt der eigentliche Song beginnt – stattdessen wird immer kurz vor der Eruption abgebrochen, auch obwohl (oder gerade weil) eine Stimme „Come on“ fordert. Auf dem dritten Teil scheint ein Cello die Struktur vorzugeben, dazu kommen atonale Geigen – auch das ein Song, der im Nichts endet. Ginge man soweit zu sagen, dass hier zum Teil eine eigenartige und sehr originelle Form der Kammermusik gespielt wird, dann hat man den Eindruck, dass der vierte Teil zusätzliche Inspiration aus dem Blues zieht. Schließlich endet das Album mit dem kurzen fünften Teil: zwei Minuten dezentes Pulsieren, das vielleicht noch am ehesten Industrialwurzeln erkennen lässt.
Zwei Künstler, zwei Ansätze und gleichzeitig so viele Ideen, dass das titelgebende Jahr problemlos gefüllt wird.
(M.G.)
Label: Silken Tofu