MYRNINEREST: „Jhonn“, Uttered Babylon

Myrninerest, unter dem Namen, den die Outsider-Künstlerin Madge Gill dem sie kreativ leitenden Geist gab, und der im Current 93-Kontext erstmals auf dem ersten Teil der „InmostLight“-Trilogie, der Maxi „Where the Long Shadows Fall“, 1995 auftaucht, veröffentlicht Tibet, der sich auf diesem Album wieder David Michael nennt, zusammen mit James Blackshaw ein Album, das im Booklet als „Hallucinatory Cartoon Channelling of my Love for Jhonn Balance“ beschrieben wird. Für Tibet gibt es kein Stillstehen, wobei vielleicht die Gründung dieses neuen Projekts (und des extra dafür ins Leben gerufenen Labels The Spheres) auch pragmatischen Gründen geschuldet ist, ergibt sich doch so die Möglichkeit, in einem personell kleineren Rahmen aufzutreten als mit dem oft expansiven Current 93-Lineup der letzten Jahre. James Blackshaw gehört seit einigen Jahren zu eben diesem, hatte auf Konzerten bislang aber selten die Chance, sein exquisites Fingerpickung zu zeigen – etwas das er auf „’Jhonn’, Uttered Babylon“ nachholt. Bis auf drei Stücke, auf denen er Harmonium spielt, werden die Texte Tibets von seiner Akustikgitarre untermalt.

Vielleicht braucht es eine gewisse Distanz, um Trauer künstlerisch fruchtbar zu machen. Unmittelbar nach dem Tod Balances hatte Tibet das Gedicht „Moonbird“ geschrieben, acht Jahre später folgt ein komplettes Album. Bei solch einem konzeptionell dichten Werk steht natürlich – letztlich wie bei den meisten Arbeiten der letzten Jahre – der Text im Vordergrund und seit einiger Zeit schon führen die Textkonvolute (natürlich) zu einer anderen Art des Vortrag(en)s. Eine konventionelle Vers-Chorus Struktur, die bei Current 93 sowieso selten eine Rolle spielte, fehlt völlig, stattdessen werden die sich aus einer immer komplexer und hermetischer werdenden Privatmythologie Tibets speisenden Texte (in denen die verstorbenen Katzen Tibets ebenso Platz finden wie Tiny Tim, Shirley Collins oder Thomas Ligotti; auf Kairo im Jahr 1904, als Aiwass Crowley das Buch des Gesetzes offenbarte, ebenso verwiesen wird wie auf Jerusalem; Logarithmen ebenso wie Keilschrift auftauchen) mehr rezitiert als gesungen. In einer kürzlich veröffentlichten Besprechung des Myrninerest-Auftritts auf dem von Antony kuratierten Meltdown Festival sprach der Rezensent von Tibets „surrealen“ Texten, wobei das ein Adjektiv ist, das Tibet selbst weit von sich weisen würde, denn „’Jhonn’, Uttered Babylon“ ist vielmehr der Entwurf einer individuell als kohärent erscheinenden Kosmologie jenseits einer Phantasmagorie. Exemplarisch für die (nur) scheinbar assoziative Aneinanderreihung von auf den ersten Blick disparaten Bildern seien folgende Zeilen aus „The Dog is Unwell“ (die Titel beziehen sich auf die CD-Version, auf der LP tragen alle Stücke andere Namen, dieses heißt dort „Meanwhile The Helocopter“) zitiert: „I heard the Time/Spill Drinks whilst/The BarMaid Bakes/At that specific Island/The Chiffre was marked/Not known by the Vulva who/Showered You with Armageddon/And Tetragrammaton/And lottery winners“. Wie auf den Alben der letzten Jahre steht hier erneut Heiliges neben Profanem und insofern ist es nicht nur ein Album über Balance und über Tibets Freundschaft zu ihm, sondern auch ein Album über Tibet selbst, wobei sich in den Texten natürlich immer wieder Anspielungen an Stücke von Coil finden: so ist u.a. die Rede von „limnal bats“, gegen Ende wird die Frage „WHERE ARE YOU“ gestellt, man gedenkt der von Blake entliehenen „Rose“ und nennt die „Time Machine”. Auch werden immer wieder die von Alkoholabusus geprägten letzten Lebensjahre des Freundes angesprochen: „There were no stars left/Towards the end“, „He stared too long into the /Abyss“; aber auch das eigene Werk wird verfremdet angesprochen: „Under the Rain and/Grit and Dogs/Under the Pain of/Keeping Hooded Eyes“ heißt es auf „CatNip Pastures“.

Das kontemplative „Chaos In His ChoirBoy“ gehört zu den zugänglicheren Stücken, am beeindruckendsten – wenn auch für diejenigen, die mit dem Ouevre Tibets nicht vertraut sind, irritierendsten – sind die Stücke, auf denen der Vortrag sich zur völligen Selbstoffenbarung steigert und Tibet kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen scheint, so etwa auf „Roadworks For TinkerBell“, „The Green Sothis Bottles“,  „BadLuckClock“ (mit fast schon atemlosen Vortrag) oder besonders auf dem Abschlusstrack „Long Home Sick Tonight“.

Halluzinatorisch ist diese Reise tatsächlich, wieviele bereit sind, daran teilzunehmen, ist eine andere Frage, denn nach diesen zwölf Stücken und dieser Thematik kann es dem Hörer wie im letzten Stück beschrieben gehen: “Drowning/In Language and/Exhaustion”.

M.G.

Label:The Spheres/Coptic Cat

Myrninerest