Man muss nicht gleich an etwas so Offensichtliches wie den Bildungsroman denken, wenn jemand das Leben mit einer literarischen Erzählung vergleicht. Jenseits kohärenter Geschichten mit all ihren Ausschmückungen und Auslassungen ist das menschliche Bewusstsein ein stets neu befeuerter narrativer Prozess, voll von ineinander verschlungenen Fragmenten erzählender, beschreibender und kommentierender Art. Was daraus entsteht ist ein Selbstbild als work in progress. Die Seelenkunde trägt dem vielfältig Rechnung, und für manche Schulen der Psychoanalyse ist der sogenannte Neurotiker primär jemand, der eine unvorteilhafte Autobiografie entwirft und lernen sollte, an Stil, Modus und Motiven zu feilen.
Natürlich fehlte es nie an Versuchen, sich solchen Fragen künstlerisch anzunähern. Bei den Meistern des literarischen stream of consciousness, die den Prozess so authentisch wie möglich imitieren wollten, geriet das Moment des Selbstentwurfes ins Hintertreffen, in der repetitiven Wortmühle Thomas Bernhards dagegen erlangte er vielleicht den größten Grad an Bewusstheit. Besonders reizvoll ist es, sich dem Thema ganz oder fast ganz ohne Sprache anzunähern. Die Cellistin Julia Kent unternimmt dies auf die musikalisch vielleicht naheliegendste Art, und muss ihren über die Jahr gewachsenen Stil dafür nicht einmal verbiegen, denn ihre Musik scheint für das Thema wie geschaffen. Schon auf ihren vorangegangenen Soloalben, die sie parallel zu ihrer Arbeit bei Antony And The Johnsons, Larsen und anderen eingespielt hat, treten musikalische Motive auf den Plan, fast schüchtern zum Teil, um sich durch wiederholtes Durchexerzieren ihrer selbst zu vergewissern. Doch wie ein bedeutsamer Gedanke, der sich festsetzt, weiterentwickelt und irgendwann in anderen Gedanken aufgeht, verschwindet eine Tonfolge Julias nicht einfach, sondern entwickelt in der Wiederholung eine hypnotische Evokativkraft und ändert ihren Charakter meist unbemerkt – und dies oft zeitgleich zu anderen Klangschichten, die sie kunstvoll und stimmig übereinander anordnet.
Es wäre falsch zu behaupten, Julia Kent würde sich erst auf den neuen Album „Character“ der menschlichen Gefühls- und Gedankenwelt zuwenden, denn auch „Delay“, eine Hommage an internationale Flughäfen, und „Green and Grey“, eine Reflexion über den Clash zwischen Natur und Kultur, handelten nur oberflächlich betrachtet von Äußerlichkeiten. Bei genaueren Hinhören sind sie stimmungsvolle Meditationen über das, was die in Titeln auftauchenden Orte und Dinge im Menschen auslösen. Was „Character“ davon unterscheidet, ist die direkte Hinwendung zum Ich, das sich selbst im Spiegelbild betrachtet. Vielleicht wirkt die Musik deshalb an manchen Stellen klarer und einheitlicher. Ein inhaltlicher Sprung und im Themenkontext auch eine qualitative Stärke manifestiert sich im ausgewogenen Verhältnis von Konzentration und Zerstreuung, was zuvor meist je nach Stück unterschiedlich gewichtet war.
In einem Album, das so entschieden der Narration gewidmet ist, darf Julias drittes Markenzeichen neben Celloklang und Looptechnik nicht fehlen: Gemeint sind die dezenten Feldaufnahmen und Soundsamples, welche die Struktur und Verlauf vorgebenden Wiederholungsfiguren mit konkreten, wenn auch nicht immer klar erkennbaren Motiven anreichern. Auf diesem Weg bekommt man kleine slices of life einer Person, die (noch stilvoll mit der Hand) schreibt, vielleicht raucht oder Kerzen anzündet und gelegentlich mit einem Glas Wein anstößt.
„Character“ verdient eine Menge lobender Worte, und welche man auch wählt, souverän, persönlich und schnörkellos sollten darunter vorkommen. Ich würde aber das gleiche von ihren früheren Alben sagen, und bin überhaupt der Ansicht, dass Julia Kent zu denen zählt, deren Werk man als Ganzes betrachten muss, in dem einzelne Wegmarken immer wieder aufeinander Bezug nehmen und vergangene Wege neu aufgreifen. Jeder, der für die Magie der Wiederholung empfänglich ist, versteht, dass dies keine Statik ist, sondern das Schrittweise Ausgestalten eines kunstvollen Mosaiks. Das neue Steinchen erschien am 05. März bei The Leaf Label. (U.S.)
Label: The Leaf Label