REGGIE OLIVER: Virtue in Danger

Der auch als Schauspieler tätige Reggie Oliver ist als Autor nicht auf eine Gattung beschränkt: Ursprünglich Dramatiker, verfasste er eine Biographie seiner Tante – der Autorin Stella Gibbons -, dürfte allerdings einigen der Leser unserer Seiten durch seine in inzwischen mehreren Bänden gesammelten unheimlichen Geschichten bekannt sein, die weniger durch Drastik auffallen als vielmehr in der Tradition britischer Geistergeschichten stehen und einen Autoren zeigen, der ein begnadeter Stilist ist, Figuren scharf zeichnen kann und ein Ohr für Dialoge hat.

Virtue in Danger, der am Genfer See im Jahre 1963 angesiedelte Roman, handelt von einer christlichen Bewegung, dem sogenannten Moral Regeneration Movement – oder auch kurz MRM – deren Mitglieder sich als „repair crew for a disabled world“ (oder wie es eine der Hauptfiguren ausdrückt: „we’re not a church, we’re a radical movement we’re a campaign, we’re a war against darkness“) verstehen. Oliver ließ sich von seinen eigenen Erfahrungen mit der Gruppe Moral Re-Armament inspirieren. Im Vorwort ztiert Reggie Oliver Sören Kierkegaard mit den Worten: „The humorist, like the wild animal, walks alone“ und begründet damit seine eigene Zurückhaltung, was Bewegungen und Organisationen anbelangt. In einem Interview, das der Autor anlässlich der Veröffentlichung des Romans gab, berichtet er von den autobiographischen Bezügen und legt etwas von seinen poetologischen Überlegungen dar: Ein starker Einfluss sei der Dramatiker Alan Ayckbourn gewesen, dessen Fähigkeit Figuren durch ihre Worte zu charakterisieren er schätze. Prinzipiell seien seine Prosarbeiten dann auch stark von seinen Erfahrungen als Dramatiker geprägt und dementsprechend denke er vielfach in Szenen, Dialogen und Handlung – etwas, das sich auch in dem Roman Virtue in Danger zeigt, der der Gattung der „metaphysischen Romanze” zugeordnet wird.

Während unter der Leitung des ehemaligen Tennisspielers und Journalisten David Bayard („Leadership for Bayard was not so much an achievement as a calling.“) das von ihm selbst verfasste Theaterstück Land of Challenge, das die Weltanschauung der Bewegung widerspiegeln und verbreiten soll und das demenstsprechend von einem recht simplen manichäischen Dualismus geprägt ist („In the Land of Challenge all motives were either corrupt or pure and all choices were between darkness and light“) – bester christlicher Agitprop also -, aufgeführt wird, liegt der Gründer und (An)Führer der Gruppe Arnold Breitman, kurz AB (: „There were moments when [Bayard] was as sickened as any outsider by MRM jargon“ ) im Sterben liegt. Verschiedenste Personen aus dem engeren Zirkel versuchen mit allerlei Ränkespielen die Nachfolge zu regeln. Da ist etwa der Arzt Bill Hubbard („Like most reasonably well-educated Englishmen, he knew nothing about art“), der im Verlauf des Romans eine ziemliche psychische Desintegration durchmacht, Geoffrey Balfe, ein ehemaliger, extrem hässlicher, Gewerkschafter, die hagere, ihren Führer mehr als nur verehrende Mrs Argone (ersterer und letztere beiden sind sich in inniger Feindschaft verbunden, wie der Leser erfährt) oder der dämonische Nazi Otto Stolz, der seinen ursprünglichen Nachnamen von Stollenberg, nicht aber seine Weltanschauung abgelegt hat und für den der Kampf gegen Unmoral vor allem ein Kampf gegen den Kommunismus ist.

Weitere Spannungen entstehen dadurch, dass die einzigen (drei) professionellen Schauspieler, die in dem Stück mitspielen, keine MRM-Anhänger sind: der Afrobrite und ehemalige Othello-Darsteller Moses Robinson, Sylvia, die im Stück die tugendhafte Mary spielt („Like most characters in fiction who are strong in virtue, ‘Mary’ was weak in personality“) und sich im Laufe des Romans immer stärker von der MRM-Weltanschauung angezogen fühlt und der einer gescheiterten Ehe und schwächelnden Karriere zu entkommen versuchende Ivor Smith, der zur Hauptfigur des Romans wird und der sich irgendwann zwischen zwei Frauen findet – nämlich seiner Kollegin Sylvia und Alice, der 17-jährigen Tocher des exilierten slavonischen Königs. Der Unterteitel des Romans heißt dann auch bezeichnenderweise „The Princess and the Actor“. Darüber hinaus versucht das MRM zwei verfeindete Gruppen aus dem afrikanischen Staat Bokondo in ihrer Residenz an den Verhandlungstisch zu bringen, wobei die Motive (natürlich) nur bedingt altruistischer Natur sind.

Oliver sieht als ein zentrales Motiv in seinen Geschichten die Thematisierung der spirituellen Seite des Menschen und wie diese durch Egoismus verdorben werden kann. Dies spiegelt sich auch in weiten Teilen von Virtue in Danger wider. Wenn Bayard nach dem Tode Breitmans zu dessen Nachfolger wird (obwohl dieser -soviel sei verraten- auf dem Sterbebett jemanden anderen bestimmt hatte) und seine Antrittsrede getreu dem Motto „To the Puritan all things are impure“ hält, die er wie der im gleichen Jahr seine berühmteste Rede haltende Martin Luther King mit den Worten des Protestliedes „We shall overcome“ beendet, dann geht es bei Bayard nicht um die Beseitigung von Diskriminierung, sondern um die Überwindung der von ihm als verdorben betrachteten Welt, (in) der es an „Faith“ und „decency“ mangele und stattdessen „filth“ (vulgo „sodomy, […] masturbation, […] adultery, […] smoking, […] gambling, […] drinking“, „foul abomination of homosexuality“ ) vorherrsche. Dies erinnert  an die etwa zeitgleich Bekannheit erlangende Mary Whitehouse und ihr Wüten und Wettern gegen (vermeintliche) Unzucht und Pornographie. Bayards Äußerungen zur Homosexualität haben aber (nicht nur wegen des in scheinbar permanenter Hemdlosigkeit posierenden Putins und seines prunksüchtigen Popen) eine traurige Aktualität. Oliver lässt den auktorialen Erzähler präzise beschreiben, wie die Begeisterung der Massen – „This crowd […] who would never have let so much as a sip of alcohol touch their lips, was drunker than a silor on shore-leave“ bemerkt Smith – Bayard zuerst ängstigt, dann jedoch zu der Erkenntnis kommen lässt: „God was with him; God was in him; he was God.“ Dass in einer wenig später stattfindenden Begegnung zwischen Bayard und Silvia dieser nur durch die in das Zimmer kommende Mrs Argone davon abgehalten wird, den zuvor noch gegeißelten Ehebruch zu begehen, ist dann eine schöne Pointe und Entlarvung von Doppelmoral (Während Smith die Rede Bayards in ihrem jakobinischen Rigorismus abstößt, so stört Sylvia sich nicht an der Botschaft, sondern an der Diskrepanz zwischen Wort(en) und Tat(en)). Diese Szene hat durchaus einen gewissen Slapstickcharakter, gleichzeitig ist Oliver aber nie auf billige Schenkelklopfer aus. Sein Werkzeug ist auch eher die Ironie als der Sarkasmus. Selbst die Stelle, als Dr. Hubbard, der nach einem von Smith vereitelten Anschlag auf AB auf den schwulen Polizisten Bobby trifft, in dessen Hotelzimmer landet und feststellt, dass beide unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was der jeweils andere unter „gun“ versteht, ist von einer beeindruckenden Komik, der aber misanthropische Momente gänzlich fern sind.

Auf diesen knapp 300 Seiten, auf denen auch noch das Motiv des Doppelgängers (in Form von Alices moralisch rigider Zwillingsschwester Vicky) variiert wird, Telefongespräche zwischen Bayard und seiner Frau großartige Beispiele von gescheiterter Kommunikation sind und man einem Geistlichen begegntet, der seine Ziegen über alles liebt, entlarvt Oliver (Doppel-)Moral, illustriert, wie Macht korrumpiert und zeigt auf mehrfache Weise, wo und wann Tugend in Gefahr ist – wobei das von den einzelnen Figuren sicher unterschiedlich gesehen wird.

Ein Wort noch zum Schluss: Streift man heute durch eine der zahllosen Filialen großer Buchhandelsketten, so meint man oft, man befinde sich in Elektrogroßmärkten, so viel Platz nehmen Tablets, Lesegeräte für E-Books etc. im Sortiment ein. Man muss kein Luddit sein, wenn man dieser Entwicklung nicht gerade enthusiastisch begegnet. Wie wenig ein gebundenes Buch mit einer Datei gemein hat, zeigt diese limitierte erste Veröffentlichung des kleinen deutschen Verlages Zagava in Zusammenarbeit mit Ex Occidente Press aufs Trefflichste.

M.G.

Verlag: Zagava