Wenn sich in Disneys Trickfilm „Die alte Mühle“ das Unwetter legt, scheint es den Tieren egal zu sein, dass von dem Schauplatz, den sie ihr Zuhause nennen, nur noch eine Ruine übrig geblieben ist. Auch zwischen den nun etwas baufälligeren Wänden der Windmühle finden sie schnell wieder eine Unterkunft, und wenn die ersten Sonnenstrahlen den Ort erhellen, wirkt er beinahe wieder so heimelig wie vor dem Sturm. Das fröhliche Ende verdankt der knapp zehnminütige Streifen der Tatsache, dass hier die Natur – freilich eine sehr putzig vermenschlichte – der Protagonist ist, und den Zusammenbruch des Menschenwerks fast achselzuckend überdauert.
Der Komponist und Pianist Lubomyr Melnyk, den Leser unserer Seite vielleicht von seiner Zusammenarbeit mit James Blackshaw her kennen, war nach eigener Angabe von dem Kurzfilm inspiriert, als er vor drei Jahren die Idee zu seinem kürzlich erschienenen Album „Windmills“ entwickelte. Er betrachtete die Geschichte allerdings nur als Aufhänger und ließ seine Ideen schnell in eine ganz andere Richtung abzweigen. Melnyk sah den Stoff mit den Augen des Fantasten, der nicht nur Tiere mit menschlichen Eigenschaften versieht, sondern auch das von Menschenhand geschaffene Gerät zu beseelen weiß. In Melnyks Fantasie hatte die Mühle – ein etwa dreihundert Jahre altes Bauwerk – eine Geschichte, die wie die Biographie eines Menschen anmutet. Im Laufe der Epoche hat sie einigesgesehen, und auf ihre alten Tage sah sie mit einem geduldigen, fast sanftmütigen Blick auf die wunderlichen Gesellen, die emsig zwischen ihren Wänden hantierten. Gewiss gab es etliche Unwetter in ihrem Leben, doch Melnik setzt während des letzten, des Disney’schen Sturmes an und begleitet die Seele des Bauwerks bei ihrem großen Flug ins Jenseits, von wo sie den Menschen noch einen Gruß zuschickt.
Es gibt Konzepte, die erschließen sich beim Hören einer Musik, selbst dann, wenn sie nirgendwo zur Sprache kommen. Dann gibt es solche, die man vorher kennen muss, wenn man das eigentliche Werk im Sinne des oder der Künstler rezipieren möchte. Melnyks Album entspricht letzterem Fall, und man erfährt von der oben genannten Geschichte nur, wenn man sich auf die Suche nach Aussagen macht. Über die Frage, wie wichtig solche Hintergründe für die Rezeption eines Werks sind, wurde bekanntlich viel diskutiert, und da die Kleinkriege der Geistes- und Kulturwissenschaften schnell Züge einer ideologischen Farce annahmen, soll es hier auch bei der Erwähnung bleiben – zuzüglich der Beobachtung des Rezensenten, dass die die Musik vor dieser Information ebenso gut, aber auch anders funktioniert.
„Windmills“ ist ein reines Pianoalbum. Wollte man die Musik in wenigen Schlagworten umreißen, so würden sich Wörter wie „erhaben“, „fließend“ und „wellenförmig“ eignen. Man müsste noch hinzufügen, dass sie sehr stark von Wiederholungsfiguren geprägt ist, ebenso sehr von spontanen Variationen, die den Fluss der Klänge meist dezent, manchmal jedoch auch plötzlich und heftig verändern. Schon diese recht allgemeine Beschreibung zeigt, wie gut eine rein instrumental gehaltene Musik zu einer Geschichte passen kann, in der es um das Aufkommen und Abflauen eines Sturmes und den Flug in eine andere Welt geht. Das Dramatische offenbart sich nicht nur im Verlauf des Tempos und in den Melodien, sondern auch in der beachtlichen Klangfülle, die Melnyk hier mit seinen bewusst eingegrenzten Mittel zustande bringt. An der Stelle wird deutlich, wie recht der Musiker damit tat, sich von dem Stempel der Minimal Music zu distanzieren, und seine Arbeiten als Continuous Music zu bezeichnen. Damit wieß er nicht nur das Reduzierte und Regelhafte von sich, dass den Ideen von Reich, Young, Glass u.a. eher zueigen war, er erkannte auch, wie sehr die Illusion des potenziell Unendlichen in seiner Musik der unvorhergesehenen Wendungen noch mehr zur Geltung kommt. Eine interessante Frage wäre, ob ihm Schriftsteller wie Thomas Bernhard oder Gertrude Stein gefallen.
Dramatische Passagen, meist ganz naheliegend durch kraftvolle, tiefe Akkorde akzentuiert, wechseln sich mit den entspannteren, machmal auch frohsinnig-verbummelten Momenten nicht zu regelmäßig ab, so dass man immer wieder aus dem rein meditativen Hörmodus gerissen wird und die Narration nicht aus den Augen verliert. Der Gruß, den die alten Windmühle den Erdlingen zusendet, ist übrigens ein „song to mankind, reminding us of the beauties of life and to be grateful to God for all that we have“. Nicht nur deshalb passt „Windmills“ ausgesprochen gut zur dunklen Zeit zum Ende des Jahres.
Label: Hinterzimmer