Ich denke zwar nicht, dass es da ein festes Bandkonzept gibt, aber bei Frédéric D. Oberland und Stéphane Pigneul, die sich Oiseaux-Tempete – Sturmvögel – nennen, steht bisher jedes Album im Kontext einer Reise. Während der Entstehung ihrer beiden ersten Platten verbrachten die in Paris lebenden Musiker eine Zeit in Griechenland und in der Türkei und ließen ihre mitgebrachten Ideen mit spontanen Einflüssen vor Ort zusammenfließen. Während Samples der Umgebung, Einflüsse der lokalen Musik und vor allem die vielfältigen politischen und ökonomischen Verknüpfungen zwischen ihrer mitteleuropäischen Heimat und dem jeweiligen Land das Debüt und das darauf folgende „ÜTOPIYA“ maßgeblich geprägt hatten, kommen auf dem aktuellen „Al-’An!“, das auf Arabisch „Jetzt!“ heißt und zu großen Teilen in der libanesischen Hauptstadt Beirut entstanden ist, noch diverse Beiträge einheimischer Musiker dazu. Oiseaux-Tempete sind also diesmal so etwas wie die extended version ihrer selbst.
Die Musik auf „Al-’An!“ ist über weite Teile instrumental, und einige der Sprachsamples sind in arabischer Sprache – es ist also, gerade für entsprechend unkundige Hörer, vor allem ein atmosphärischer Versuch, die Vibes der Stadt und die Begegnungen dort einzufangen und wiederzugeben. Bei einem Ort wie Beirut ist das kein leichtes Unterfangen, denn es braucht eine ganze Weile, um wenigstens eine Ahnung davon zu bekommen, was diesen Ort in seinem Wesen ausmachen könnte.
Beirut, die ehemals geteilte Stadt, in deren Stadtvierteln nach wie vor sehr unterschiedliche Mentalitäten und Lebensweisen aufeinander treffen, und deren Bewohner das Zentrum in Hafennähe mit seinen repräsentativen Bauten und chicen Flaniermeilen nur zaghaft annehmen und so wie eine kleine Geisterstadt anmuten lassen – als Ganzes bietet die pulsierende Metropole einiges an Projektionsflächen für westliche Klischees. Wer exotischen Orient sucht, wird in anderen libanesischen Städten wie Tripoli oder in der Armenierstadt Bourj Hammoud noch eher bedient, wer ein Partyparadis sucht, findet in der Innenstadt einiges an Nachtschwärmerei inklusive abgeklärter Coolness und bei etwas Glück auch noch Reste des alten, mondänen Paris des Nahen Ostens.
Die Beiruter selbst reagieren auf solche Vorstellungen gerne etwas griesgrämig, ebenso wie auf Besserwisser, die die Stadt und das Land auf Probleme reduzieren wollen. Entgegen mancher Vorstellungen kommen die Angehörigen der verschiedenen religiösen Volksgruppen hier mit einander aus, die einst im Bürgerkrieg zerstrittenen Gruppen pflegen ein relativ entspanntes Neben- und manchmal auch Miteinander, gleichwohl muslimische und christliche Libanesen nur wenige Nachbarschaften zu gleichen Teilen bewohnen. In den modernen Gegenden im Zentrum herrscht ein recht freizügiger Lebenswandel, in den konservativeren, meist ärmeren Vororten mag die Macht der Gewohnheit und die soft pressure des schlechten Leumunds dem entgegenwirken.
Natürlich ist Beirut auch Teil des Nahen und Mittleren Ostens mit seinen typischen Krisen, und von den katastrophalen Ereignissen im Nachbarland Syrien schon durch die Aufnahme einer knappen Million Geflüchteter nicht vollends unberührt. Der traditionelle und zugleich postapokalyptisch anmutende Charme des palästinensischen Lagers Chatila (ein dicht bebautes Stadtviertel mit windschiefen Häusern, zwischen denen man sich wie in einem endlosen Katakomben-Labyrinth verlaufen kann) und die würdevolle Aura seiner Bewohner sollte nicht über deren Armut und wirtschaftliche Benachteiligung hinwegtäuschen. Die tatsächlichen Probleme, die die Leute vor Ort beschäftigen, sind auch meist ökonomischer Art, steigende Mieten, eine im Zuge dessen fortschreitende Verunschönung des Stadtbildes durch auch noch in den letzten freien Fleck gestellte neue Hochhäuser, eine Infrastruktur, die auf vielfältige Art zu wünschen übrig lässt und nicht zuletzt auch damit zusammenhängende Umweltprobleme.
Zum Teil kommen solche Themen in „Electrique Résistance“ zur Sprache, das einen interviewartigen Spoken Word-Exkurs über nervenzerrende monotone Klangschichten legt. Das Gros des Albums jedoch lässt eher die Atmosphäre sprechen, und die ist so vielgestaltig und wechselhaft wie eine Begegnung zwischen Paris und Beirut nur sein kann. Verschwommene, leicht sentimental anklingende Streicher und entspannte Gitarrenpickings eröffnen das Album mit einem Soundbild, das an Niedowierzanie erinnert und eine ernste, friedvolle Stimmung entstehen lässt. Doch die temperamentvolle Beiruter Soundkulisse lässt nicht lange auf sich warten, Stimmen, verwaschene Straßengeräusche inklusive der allgegenwärtigen Autohupen verschmelzen mit einer relaxten Handdrum und einem tollen Oudspiel, das aber bald in dröhnendes, elektrisches Freakout überleitet. All diese Elemente kehren wieder, als hörspielartige Szenen mit Hunden und Verkehrslärm, als rauer Postrock und schwerer, schleppender Metal, als eindringliches Saxophonspiel und spannungsgeladene Streicherimprovisationen, als fragiler arabischer (Klage?)Gesang in „I don’t know what or why (Mish Aaref Eish W Leish)“ und „Carnaval“ und als derbe Rezitation in „The Offering“, dessen Text aus der Feder des palästinensischen Dichters Mahmoud Darwish stammt. Auch der Untertitel des Albums – “And your night is your shadow — a fairy-tale piece of land to make our dreams” – entstammt dem Werk dieses Autors.
Oberland und Pigneul wären nicht die Sturmvögel, wenn sie nicht eine ganze Reihe lokaler Musiker an dem Album beteiligt hätten wie die Oud-Spielerin Youmna Saba, an verschiedenen Instrumenten Charbel Haber und Sharif Sehnaoui sowie den Sänger Tamer Abu Ghazaleh, der Lesern unserer Seite vielleicht schon durch seinen Beirag zu Alifs “Aynama-Rtama” begegnet ist. Heraus sticht wie schon bei der Compilation „Unworks & Rarities“ eine Rezitation von G.W. Sok: Im mit geheimnisvollen Klingeln und Vibrieren eröffneten „Through the Speech of Stars“ sinniert der frühere The Ex-Frontmann in kraftvollen Worten über eine ungewisse Zukunft, über Fortschritt und Verschwinden. Der Historiker, der irgendwann, wenn unsere Gegenwart längst unsere Vergangenheit geworden ist, unsere Geschichte schreiben wird, sind die Erde und der Kosmos selbst.
Dieser enorme Gegenzoom, bei dem die einzelnen Themen, ob in Beirut oder Paris oder jedem anderen Ort, zu Mosaiksteinchen der Geschichten werden, ist ein Faktor, der den eher ruhigen, unaufgeregten Charakter dieses Albums erklären könnte, bei dem nur einzelne Eruptionen den Fluss der Musik unterbrechen und den Hörer aufrütteln. Vielleicht ist es aber auch die bisweilen trügerische Ruhe des Mittelmeeres, das am Beginn von „Al-’An!“ steht und fast leitmotivisch alle Aufnahmen von Oiseaux-Tempete verbindet. (U.S.)
Label: Sub Rosa