HEROIN IN TAHITI: Remoria

Die Gründung der Stadt Rom wurde, wenn man der Mythologie folgt, von einem Bruderzwist begleitet, dem Streit zwischen den Zwillingen Romulus und Remus, die nach jeweils sehr unterschiedlichen Deutungen eines Orakels uneins waren über die Größe der zu bauenden Stadt. Im Zuge der Auseinandersetzung sprang Remus über eine von seinem Bruder bereits befestigte Mauer, eine Rechtsverletzung, für die er vom Romulus im Zweikampf erschlagen wurde. Dieser herrschte fortan über die neue Stadt, die dann auch nach ihm benannt wurde.

Ähnlich wie bei fast jedem entscheidenden historischen oder mythologischen Ereignis haben sich auch hier schon viele fantasiebegabte Menschen gefragt, wie die Geschichte der letzten siebenundzwanzig Jahrhunderte verlaufen sein könnte, wenn der Kampf anders ausgegangen wäre und Remus seine nur halb so große Version der ewigen Stadt gebaut hätte. In der Vorstellung vieler Römer existiert diese andere Stadt von Beginn an als schattenhafte Parallelwelt unter der Oberfläche und in den verborgenen Winkeln Roms und bildet eine Art spiegelhafte Kehrseite der Stadt, ihrer Architektur, ihrer Menschen, ihrer Ideen und Werte und nicht zuletzt der vielen Ereignisse in ihrer Geschichte. Zwei Römer von heute, Valerio Mattioli und Francesco de Figuereido haben die diese „Was wäre wenn“-Geschichte mit ihrem Projekt Heroin in Tahiti musikalisch erzählt. Bei ihnen heißt die Stadt Remoria – der Sound ihrer ockerbraunen Fassaden hat etwas von Link Wray auf Valium, angereichert mit der einen oder anderen Brise ritueller Exotica.

Heroin in Tahiti sind nicht an herkömmlichen Narrativen mit klar konturierten Personen und Handlungne interessiert, ihr musikalisches Werk ist seit jeher ein (von wenigen Sprachsamples abgesehen) rein instrumentales und somit weit entfernt von jedem dichterischen Songwriting. Und doch sind sie auf jedem ihrer stets konzeptuell oder semi-konzeptuell ausgerichteten Alben große Erzähler, die ihre mythisch anmutenden Geschichten v.a. atmosphärisch vergegenwärtigen und gelegentlich mit konkreten, klar dechiffrierbaren Samples kurze Momente der Eindeutigkeit aufleuchten lassen. Ihre Geschichte Remorias, bei der jede allzu biedere Ernsthaftigkeit ohnehin des Raumes verwiesen wird, hat etwas von der Erinnerung an einen vor langer Zeit gesehenen Film, an dessen Story man sich kaum noch erinnern kann, dessen Stimmung und einzelne Bilder einem aber immer noch präsent sind.

Wie eine Kamerafahrt, die in einem wortkargen Film das Panorama einer weiträumigen Landschaft entfaltet, schaffen atmosphärische Details gleich beim Auftakt einen Eindruck von Weite und sorgen zugleich für Kolorit: eine einsame Maultrommel, seltsames Ratschen und irgendwann das aus zahlreichen Western vertraute Rasseln einer Klapperschlange. Gefahr im Verzug! Erst stetig anwachsende Ambientsounds, die mehr und mehr in raue Gitarrenwände übergehen, verwandeln das noch hörspielartige Narrativ in die Doom-Variante staubtrockenen Desert Rocks, für den man Heroin in Tahiti kennt und – wenn man die Entschleunigung zu goutieren weiß – liebt. Die Mischung aus schleppender Schwere und rituellem Klingeln, Rumpeln und Rasseln klingt vertraut und gerät hier doch besonders monumental.

Vieles, das als Kolorit und Budenzauber funktioniert, wirkt zugleich als Spannungsmacher – leise und monoton vor sich hingrummelnde Zupfereien, temolierende Akkorde aus einem vergessenen Roadmovie, bizarr verzerrte Vogelschwärme. Hin und wieder verdichtet sich die Musik zu vorübergehend kohärenten Rhythmen, hier und da winden sich folkige oder mittelalterliche Melodien aus dem stets veränderlichen Sound, die den Zeitreisecharakter dieser fantastischen Stadterkundung bewusst machen. Abgesehen von diesen Reminiszenzen an ein jahrhundertealtes Südeuropa klingt die Musik in vieler Hinsicht, zumindest dem Klischee nach, eher amerikanisch, doch es bleibt dabei auch, wie so oft bei der Band, ein Rest kalkulierter Unglaubwürdigkeit bestehen. Und gerade dies verbindet sie mit einer mittlerweile schon ehrwürdigen italienischen Tradition, nämlich die Aneignung von Stilen und Genres v.a. aus dem englischsprachigen Raum, um diesen dann, beinahe unbeabsichtigt, eine ganz eigene Färbung zu geben, die sich – ob bei den gelungeneren Western, beim immer ein wenig englisch klingenden Dark Folk von Argine oder eben beim Doom Surf von Heroin in Tahiti – locker auf Augenhöhe mit dem zu stehen, wovon man sich einmal inspirieren ließ.

Was die Hauptinspirationsquelle, die ungebaute Stadt Remoria, angeht – sollte man mal wieder von ihren monumentalen Fassaden, ihren winddurchfegten Straßen und ihren geheimnisvollen, heidnischen Riten träumen, so wird man sich all dies nicht mehr anders vorstellen können als eingetaucht in den dunklen, schweren und ebenso kraftvollen Sound dieser Platte.

Label: Soave Records