Armageddon has already happened. Interview mit Juan Scassa von Futeisha und La Piramide Di Sangue

Mit seinem derzeit wichtigsten Steckenpferd Futeisha spielt der in Turin lebende Argentinier Juan Scassa eine sperrig-schöne Mischung aus sanften, mediterranen Folkklängen, unberechenbarem psychedelischen Lärm und hörspielartigen Sequenzen. Was diese Musik vom gängigem Dark Folk unterscheidet, ist das Fehlen aller betulicher Biederkeit, und mit ihren bissig nihilistischen Untertönen ist sie ein idealer Vertreter einer Richtung, für die David Tibets Begriff “Cartoon Apocalypse” recht gut passen würde. Im folgenden Interview berichtet Scassa über seine Zeit bei den bekannten Psych Rockern La Piramide Di Sangue, über die Anfänge Futeishas, über sein zweites Standbein in der Welt der Comics und das geplante neue Album, das aus Coverversionen bekannter Current 93-Songs auf Japanisch besteht.

English version

Ich habe zum ersten mal im Zusammenhang mit La Piramide di Sangue von dir gehört, aber ich bin sicher, du hast schon vorher Musik gemacht. Was waren deine ersten Aktivitäten? Gibt es ältere Projekte, die du immer noch empfehlen würdest?

Ich begann mit Stefano Isaia (Movie Star Junkies, Lame, etc.) an seinem ersten Gianni Giublena Rosacroce-Tape zu arbeiten, das 2011 bei Yerevan Tapes herauskam, und kurz darauf begann La Piramide. Stefano ist ein großartiger Musiker und das Album ist wirklich inspirierend. Das Pseudonym Dedalo66, das ich verwende, stammt von diesem Release.

In der Zeit davor, 2008, hatte ich eine Lo Fi-Band, Dirty Sanchez. einmal spielten wir in einem Squad und wUrden von einem Skinhead angemacht. Vielleicht waren einige der Songs nicht so schlecht, aber wir hatten überhaupt keine Erfahrung. Mit Andrea, einem aus der Band, naHmen wir unter dem Namen Jennifer ein paar Noise Concrete-Tapes auf. Keine gute Musik, aber gute Erinnerungen.

Ist Musik das Medium, mit dem du angefangen hattest? Hast du eine akademische Ausbildung in irgend einem kreativen Bereich, oder bist du eher Autodidakt?

Ich lernte klassische Gitarre, als ich noch auf dem Gymnasium war, aber meine Art zu Spielen ist ziemlich punkig DIY. Ich schreibe Comics, man findet mich im Underground Comics Expo, wo ich mit meinem Kumpanen Daniele “Michelangelo Della Sborra” La Placa Porno-Nihilist-Strips verkaufe. Ich definiere mich nicht als Musiker, Schreiber oder Künstler. Ich bevorzuge Kultur-Agitator.

Warst du Gründungsmirglied von La Piramide? Wie habt ihr euch kennen gelernt, und was waren eure ersten Pläne und Ideen?

Wie gesagt, Stefano nahm gerade sein erstes Soloalbum als Gianni Giublena Rosacroce auf und fragte, ob ich etwas klassische Gitarre beisteuern würde. Er dachte schon über eine neue Psych Rock-Band nach, und so sprachen wir mit ein paar Freunden: Kebab (Craxi Driver, Murdercock), Jena (Six mistake, Licenza di Collina), Krano (Vermillion Sands, Krano), Stefano Lopiccolo (Love Boat) und Walter (King Suffy Generator). Wir arrangierten die Songs neu in einer rockigeren Art… Insofern war La Piramide di Sangue quasi eine Pyramide mit einem Fundament aus Stein und Metall mit Stefanos Klarinette oben drauf.

Wie war deine Rolle in der Band abgesehen von der eines Gitarristen? Warst du an der Komposition beteiligt, oder war das Ganze ohnehin mehr ein Improv-Jam?

Das wechselt von Song zu Song. Wir haben viel gejammt, aber meistens entstanden die Songs aus einer von Stefanos Melodien, und dann wurde der Rest dazu arrangiert.

Nach den Alben “Tebe” und “Sette” und einigen Konzerten wurde es etwas ruhiger um euch. Ist es, weil ihr eine große Band seid und an unterschiedlichen Orten lebt? Denkst du, es wird irgendwann noch mal weiter gehen?

Es ist sehr schwierig, eine Band mit sieben Mitgliedern zu managen, mehr noch, wenn jeder noch eine Menge anderer Projekte hat. Als unser Drummer nach Sardinien gezogen ist, ist La Piramide in eine Art Dauerkoma gefallen. Ich denke nicht, dass wir noch einmal spielen werden, was echt schade ist, denn wir hätten noch ein neues Album mit großartigen Songs aufzunehmen.

Was kannst du uns über die Geburt von Futeisha erzählen, welches wohl heute dein Hauptprojekt ist?

Futeisha wurde 2010 in Kyoto geboren, als wir konkrete Sounds und Stimmen aufnahmen und bearbeiteten. Zu der Zeit spielte ich ein einer Punkband namens Flat Sucks. Es gibt ein paar alte Futeisha-Alben, wie “Simulacra”, zwischen 2010 und 2014, als “Dannato” herauskam, aber die sind alle eher schlecht aufgenommen und nicht wirklich interessant.

War Futeisha zunächst als ein Soloprojekt gedacht, oder doch eher als etwas offenes? Später hast du ja mit einigen Gastmusikern gearbeitet.

Als großer Fan der englischen Dark Folk-Szene wollte ich die Band so organisieren, wie David Tibet oder Douglas Pierce es gemacht haben. Siehst du, hier in Turin gibt es eine Art Szene mit Gruppen wie Movie Star Junkies und Oaxaca, und es ist wirklich cool mit Freunden zu spielen. Auf “Dannato” haben mir Krano, Vinz (MST, Vernon Selavy, Heart of Snake), Maria (GGG, Space Aliens from Outers Space, Lame) und andere sehr geholfen, und ich bin ihnen für immer dankbar dafür.

Soweit ich weiß, bezeichnet der Name Futeisha eine koreanische Minderheit in Japan und war ursprünglich ein abwertender Begriff. Was hat es damit auf sich?

“Futeisha (不逞社, “The Outlaws”) war eine anarchistische Gruppierung, die 1919 in Japan von Park Yeol und Kaneko Fumiko gegründet wurde. Futeisha nahmen satirisch Bezug auf die Behandlung der Kreaner durch die Behörden, von denen sie als Unruhestifter verunglimpft wurden: Futei senjin (不逞鮮人), der Unruhe stiftende Koreaner. Park wurde am 2. September 1923 ohne Anklage verhaftet, einen Tag nach dem großen Kantō Erdbeben. Zwei Tage später wurde Kaneko ebenfalls verhaftet. Basierend auf wenigen Indizien wurden sie des Hochverrats und wegen eines geplanten Bombenattentats auf Konprinz Hirohito angeklagt. Beide wurden schuldig gesprochen und am 25. März 1926 zum Tode verurteilt, doch ihr Todesurteil wurde von Kaiser Showa in eine lebenslängliche Freiheitsstrafe umgewandelt. Kaneko starb am 23. July 1926 im Gefängnis, vermutlich durch Selbstmord”. (Wikipedia)

Du hast ein großes Interesse an Japan und der (Sub-)Kultur aus der Region. Was sind deine wichtigsten Referenzen, und welche Rolle spielen sie in deiner Musik?

Ich hab an der Uni Japanisch studiert und arbeite als Übersetzer aus dem Japanischen. Ich lebte als Student ein Jahr in Kyoto. Ich vermisse Japan wirklich. Ich mag die Strenge und den ritualistischen Aspekt einiger traditioneller Musik und auch der Kultur wirklich sehr. Zweifellos sind einige Meister der Literatur wie Mishima Yukio, Ishikawa Jun oder Abe Kobo weit mehr als bloße Referenzen in meiner Musik.

Wie du mir letztens erzähltest, arbeitest du gerade an einem Current 93-Tributealbum mit allen Lyrics in Japanisch, gesungen von einem japanischen Sänger. Was kann man da erwarten?

Wir übersetzen die Texte ins Japanische und werden eines der schrägsten Alben überhaupt herausbringen. Hirayama Yu ist ein Musiker aus dem Harsh-Noise/Cut-up-Bereich, ein Autor (er schrieb mehrere Bücher über Industrial und experimentelle Musik und über Mangaka, daneben betreibt er ein kleines Label namens Suikazura (Japanisch für “Efeu”).

In dem Song “Temujin” auf “Dannato” habt ihr schon auf Current 93 angespielt, und der Live-Track “Curento 93″ verweist wohl – abgesehen dass er ein Volkstanz ist – ebenfalls auf diese Band. David Tibet und seine sich immer wieder neu erfindene Gruppe zählen tatsächlich zu den einflussreichsten Underground-Bands der letzten Jahrzehnte. Was macht sie für dich so herausragend?

“Curento” ist ein traditioneller Volkstanz und ein Musikstück aus dem Piemont. es war ein Witz, den Song so umzubenennen. Ich denke, ein radikaler Bezug zu Kunst generell macht David Tibets c93 zu einer der außergewöhnlichsten Bands: eine perfekte und furchteinflößende Mischung aus Tradition und Avantgarde. Die Art, wie Tibet Musik spielt, ist in gewisser Weise dem Theater von Antonin Artaud verwand, wie eine kontinuierliche Enthüllung des inneren und beängstigenden Selbst des Menschen.

Gibt es andere einflussreiche Künstler oder aktuelle Favouriten, die du empfehlen kannst?

Oh! Es gibt eine Menge guter Musiker. Ich weiß nur, dass ich Jonathan Richman sehr mag.

Ein Hauptelement in Futeisha ist das Zusammenspiel von starken Kontrasten, so gibt es beispielsweise pastorale, mittelalterlich klingende Gitarrenstücke, gefolgt von dystopischem Noise. In all diesem Wirrwarr scheint es aber immer etwas vitales, humorvolles zu geben. Würdest du zustimmen?

Gegenüberstellung von Gegensätzen hat mich immer schon interessiert. Es ist eine der wesentlichen Eigenschaften des Lebens generell. Der Folksound, wie z.B. die klassische Gitarre, in einer rauen Noise-Umgebung, erforscht das Menschliche in einer “Halber Mensch”-Wirklichkeit. Aber die Landschaft in Futeisha ist pessimistisch: Armageddon hat längsst stattgefunden. Die Erforschung der Vergangenheit ist nur Nostalgie, die ästhetische Erforschung eines Menschen, der nicht mehr sein kann.

Obwohl es Folkelemente in Futeisha gibt, spielt ihr nur selten Songs im strikten Sinne des Wortes, oft haben die Aufnahmen auch etwas von Film und Hörspiel. Ist das so gewollt?

Ich konstruiere gerne simple Melodien und erschaffe “Räume” und “Stimmungen”, um den Tod der Seele zu beschreiben.

Euer Album “Sulla Via Del Re Nel Ritorno” dokumentiert eines eurer wenigen Konzerte, die Atmosphäre erscheint um einiges ritualistischer als die Studioaufnahmen. Wie kann man sich eure Konzerte vorstellen?

Ich versuche, Antonin Artauds Idee des Theaters der Grausamkeit zu erforschen im Sinne einer “primitiven zeremoniellen Erfahrung, intendiert um das menschliche Unbewusste zu befreien und dem Menschen sich selbst zu enthüllen”.

Ein weiteres Standbein von dir ist die Webseite “Becomix”, eine Art Blog-Datenbank für Comics. Was ist das für ein Projekt, und wie groß soll es werden?

Ich arbeite in einer Datenbank für Comics, die auch eine Art Marktplatz ist, wo jeder seine Sammlung selbst verwalten sowie kaufen und verkaufen kann. Wie es das auch bei anderen medien gibt, aber halt nur für Comics. Ich weiß nicht, wie groß es werden wird, aber meine Kollegen machen wirklich eine gute Arbeit. Hoffentlich habe ich morgen einen Job, hahaha. Seit einiger Zeit schreibe ich über Comics, und eine bekannte Webseite, Lo Spazio Bianco, hat mir eine Zusammenarbeit angeboten, worauf ich sehr stolz bin.

In der Zwischenzeit arbeiten Daniele und ich an einem neuen Buch, das von 90er Jahre-Scifi-Mangas und Burroughs inspiriert ist. Ich hoffe, es erscheint 2019.

Wenn du einen roten Faden benennen müsstest, der deine Musik mit deinem Comics und Illustrationen verbindet, was wäre das?

Die Auslöschung jeglicher Gewissheiten des Alltags.

FUTEISHA @ Bandcamp

Becomix