In ihrer großen Zeit wurden Sonic Youth von vielen zu Unrecht als eine Art Duo mit Begleitband gehandelt, bei dem sich eine wechselnde Zahl an Instrumentalisten um das damalige Paar Gordon und Moor gruppierte. Diejenigen aus der „zweiten Reihe“, die sich dennoch einen größeren Namen erspielen wollten, mussten das über Veröffentlichungen außer der Reihe, wie Soloaktivitäten, tun, und niemandem ist das besser gelungen als Lee Ranaldo, der über die Jahrzehnte einige Alben herausgebracht hat. Meist im Bereich des Gitarrenrock angesiedelt, gab es auch immer Raum für dezente Americana oder auf der anderen Seite Experimentelles.
Das Interesse, in unterschiedlichen Himmelsrichtungen Ausschau zu halten, ist dem neuesten, bei Mute erschienenen Album „Electric Trim“ besonders eingeschrieben, denn vom Klanggewand her ist das Werk mit Folk, Indierock und Electronica-Attributen in einer überquellenden Kostürmkammer zuhause, und an manchen Stellen hört man die Reminiszenzen an bekannte Musiker derart stark heraus, dass man es kaum für Zufall halten mag.
Beim eröffnenden „Moroccan Mountains“ musste ich zuerst an die Sun City Girls oder an die „Tanger Sessions“ von deren Gitarristen „Richard Bishop denken – geheimnisvoll, fast rituell beginnt das Stück, zaghaftes Saitenklimpern breitet sich aus über einem Klanggewebe aus Klingeln und Rasseln und Dröhnen, bis irgendwann klassisches Fingerpicking a la John Fahey Gestalt annimmt. Wie bei den meisten der Songs ist der Text, den Ranaldo in gefasster Rezitation vorträgt, zusammen mit dem Dichter und Romancier Jonathan Lethen verfasst, eine Art Anklage verschafft sich Gehör, eventuell vom lyrischen ich an sich selbst gerichtet. Bei „Uncle Skeleton“, das eine Geschichte um ein die Familiengeschicke immer noch bestimmendes Skelett erzählt, kommt mit Twangs und flotten Texmex-Rhythmen cooles Desertrock-Feeling auf, und man denkt natürlich sofort an den mexikanischen Tag der Toten. Wenn der Song seine volle Ohrwurmqualität entfaltet, ist er längst in urbanen, elektrifizierten Rock übergegangen.
Die folgenden Stücke entpuppen sich immer mehr als Wechselbad der Stile und Stimmungen: ernste, drängende Aufbruchstimmung in „Let’s Start Again“, Melancholie und ein anrührendes Duett mit Sharon van Etten in „Last Look“, Rock’n'Roll in „Circular Right“, bluesige Folkmagie im Titeltrack u.s.w. – ich muss gestehen, dass ich auch nach längerem Überlegen nicht schlüssig bin, ob die Bandbreite für mich Abwechslungsreichtum oder eher eine gewisse Unentschlossenheit ob der Richtung des Ganzen demonstriert. Der Qualität der einzenlen Songs tut das allerdings nicht den geringsten Abbruch, und für Sonic Youth-Fans ist „Electric Trim“ einmal mehr gerade deshalb interessant, da Ranaldo hier im Grunde nichts anderes macht wie bei seiner Stammband, denn auch da war er, wenngleich eher im Hintergrund, für die Elemente der Melodik, der Songqualität und das Ausprobieren verschiedener Richtungen zuständig. (A. Kaudaht)
Label: Mute / Good To Go