Dass Sudden Infant vor vier Jahren die wahrscheinlich tiefgreifendste Veränderung seit Bestehen des Projektes vollzogen hatte, hat sich mittlerweile sicher herumgesprochen. Seit „Wölfli’s Nightmare“ ist Sudden Infant ein Trio, und mit Bass und Schlagzeug im Gepäck klang die Musik seitdem auch organischer und weit weniger abstrakt als in den zweieinhalb Jahrzehnten, in denen Joke Lanz unter dem Namen allein arbeitete. Da der Schweizer auch vorher keineswegs immer gleich klang, blieb die Frage offen, inwieweit der neue Stil und das Line-up zukunftsweisend sein würden.
Für’s Erste hat sich die Frage nun beantwortet, denn das gerade erschienene „Buddhist Nihilism“ führt den damals eingeschlagenen Kurs vielleicht noch konsequenter fort als erwartet: Steht auf dem „Wölfli’s Nightmare“-Cover noch Lanz’ Counterfeit mit stierenden Augen im Zentrum des Geschehens, so ist auf dem Nachfolger die ganze Band zu sehen, und auch musikalisch wirken die einzelnen Beiträge hier noch gleichmäßiger gewichtet – zumindest insofern, dass die vielen dunklen, an alte Filmscores erinnernden Soundscape-Elemente auf dem neuen Album kaum mehr eine Rolle spielen und einem überraschend eingängigen Bandsound Platz machen, den man getrost Postpunk nennen darf, vorausgesetzt man verwendet den Begriff nicht als schnöden Euphemismus für Retro Gothic ohne Schminke.
Dass „Buddhist Nihilism“ trotzdem Sudden Infant in Reinkultur ist, zeigt sich v.a. im Gesang und in den Texten. Viele Stücke sind Rundumschläge gegen eine wahre Enzyklopädie an großen und kleinen, tragischen und lächerlichen Missständen. In der altbekannten Lust am Aufzählen und Kontrastieren präsentiert „In this Moment“ einen Querschnitt des Weltgeschehens, das sich in der gleichen Sekunde ereignet: vom schwarzen Teenager, der in Baltimore erschossen wird über dreihundert Hunde, die gegen einen Baum pissen bis zur Frau, die allein in ihrem Bett das Zeitliche segnet – bis dass lärmendes Freakout dem rasenden Newsflash ein Ende setzt. Im funky Stakkato von „Rationality“ erwartet ein ganzer Kosmos – der Chef, der Magen, die Mutter, die Polizei – Vernunftentscheidungen. Bei einer derartigen Salve an Ratio wünscht man sich glatt die Romantik im Anarchogewand zurück.
Im anfangs noch trancehaft rituellen, später punkigen „100 Word Mantra“ wird in The Ex-Manier eine ganze Welt an Statussymbolen durch den Kakao gezogen, und wenn in „George Clooney“ die Stars und Role Models dieser Welt – u.a. auch Martin Luther King und Steve Underwood – an der Reihe sind, schielt eine kräftige Brise Dada ums Eck. Davon ist ohnehin reichlich vorhanden, in “Reim dich oder ich fress dich”-Versen von „Brownsville“ und „228“ oder in den genervt gähnenden Jammervocals eines schleppenden Abgesangs auf die Flut an Partytouristen im sommerlichen Berlin. Die interessantesten Stellen finden sich m.E. da, wo Sudden Infant auf jede Gefälligkeit pfeiffen und aggressiven Noiserock („Puppet Master“), hypnotisches Metallklappern („Hong Kong Nursery“) oder das von vielen früheren Arbeiten her bekannte Vater-Thema (im Cat Stevens-Cover „Maybe You’re Right“) einbringen.
Bleibt die Frage nach dem Buddhistischen Nihilismus. Für die einen ein Widerspruch in sich, für die anderen eine Tautologie, da im Buddhismus das Nichts und die Leere durchaus als positive Größe gelten, für wieder andere wahrscheinlich die Folge eines Annäherungsversuch an fremde Kulturen mit allzu westlichen Begriffen. Wieviel davon zumindest zwischen den Zeilen in dem so kraftvollen wie kurzweiligen Album steckt, überlasse ich dem Spürsinn der Hörer. (U.S.)
Label: Harbinger Sound