SUDDEN INFANT: Wölfli’s Nightmare

Es gibt Bands, die sich bei gefühlt jeder Veröffentlichung neu erfinden und solche, die sich über Jahrzehnte in der gleichen Umlaufbahn bewegen und ihren Stil nur minimal variieren. Wenn eine Band oder ein Künstler nach etlichen Jahren einen plötzlichen Wandel vollzieht, erregt das Aufsehen, und was für die einen der Ausverkauf, ist für die anderen eine vitale Frischzellenkur. Sudden Infant war für die letzten drei Jahrzehnte das Projekt von Joke Lanz und zwar nur Joke Lanz. Als ein solches wurde es nach einer abschließenden Tour und einem limitierten Tape vor ein paar Monaten zu Grabe getragen. Auferstanden ist Sudden Infant seit kurzem als Trio, zu dem neben Lanz nun noch ein Schlagzeuger – Alexandre Babel – und ein Bassist – Christian Weber – gehören. Was die drei anfang dieses Jahres mit Unterstützung von Swans- und Wiseblood-Legende Roli Mosimann aufgenommen haben, ist jüngst in rocktauglicher Gestaltung auf Platte erschienen.

Die ganz großen Skeptiker darf man beruhigen, denn auch im erweiterten line-up betonen Sudden Infant bekannte Aspekte ebenso sehr wie die Innovation. Die altbekannte Mischung aus gutdosiertem Lärm, stakkatohaften Rhythmen und an Stummfilmsounds erinnernde Echos der klassischen Moderne wurden nicht ersetzt, sondern ergänzt und mit dem Kitt organischen Rocks belebt, der Jokes Wurzeln im Punk einmal mehr zur Geltung kommen lässt. Das Album enthält Songs, die man bereits von früheren Darbietungen her kennt, und zuguterletzt scheinen zahlreiche Sujets auf, die sich vertrauten Themen wie Kindheit, Vaterschaft etc. widmen: Die Kindheit, die ganz plötzlich zu einer Art Ende kommt durch den Verlust des Vaters, das plötzliche Wiederfinden in der eigenen Vaterrolle – diese Themen, die man von früheren Aufnahmen her kennt, hallen auch in den neuen Stücken wieder.

“Wölfli’s Nightmare” bewegt sich so stark in diesem Rahmen, dass man es mit einer gewissen Vorsicht als Konzeptwerk betrachten kann. Als Herzstück fungiert die sounduntermalte Spoken Word-Vertonung des Prosatextes “Father”, der den Rapper Saul Williams channelt und nach die Eigenschaften eines guten Vaters fragt. In der Tat steht das Fragen und die Betonung der Dringlichkeit auch im Vordergrund, denn wer will ein solches Thema schon im Songlänge erörtern? Am Ende kippt das Stück dann in eine gebrochene Hommage, dem Vater gewidmet.

Der Alptraum des bekannten Art Brut-Künstlers beginnt mit heftigen Detonationen und metallischem Klingeln. Die erdigen Bass- und Drumspuren werden dabei nicht nur die Neubautenvergleiche auf den Plan rufen, sie schaffen auch die angemessene Grundlage für die emotional aufgeladene Bestandsaufnahme im Eingangstext: “Ten children sixty seconds zero toys eight hundred million cars/People get sick children die of it”. In der Umsetzung klingt das keine Spur weinerlich, sondern wie eine trotzige Kampfansage, doch der krafvolle Aufbruch kann schnell in Wahn kippen wie im desperaten Hilferuf eines Ertrinkenden (“Hold me”) oder in der monströßen Erotik in “Kiss”. Einige Momente sind von erstaunlicher Klarheit und fokussieren einen kindlichen Blick auf eine ersehnte Weite und Entgrenzung (“Crane Boy” I & II), die am Ende, auf dem Dach eines Hochhauses, ihre äußerst zwiespältige Erfüllung findet.

“Wölfli’s Nightmare” erzählt jedoch keine zusammenhängende Geschichte, und selbst wenn die Figuren aus den einzelnen Songs – wie der Crane Boy und der Mann auf dem Dach – scheinbar miteinander verschmelzen, bleibt ihr Bezug zueinander doch unklar und offen für die unterschiedlichsten Assoziationen. Vielleicht sollte man bei einer Band, die es so ordentlich krachen lässt, auch nicht zu stark auf die Interpretation konzentrieren, sondern sich v.a. von der Stimmung mitreißen lassen – gerne auch auf der kommenden Tour, wo man Joke und Freunde u.a. mit Kollegen wie Consumer Electronics und den Sleaford Mods auf der gleichen Bühne erleben darf. (U.S.)

Label: Voodoo Rhythm