CARLOS CASAS: Kamana

Es gilt im Grunde für jede Art der Dokumentation: In ihr finden sich oft ebenso viele Spuren und Zeugnisse des Forschers, seiner Blickwinkel, Vorverständnisse und technischen Möglichkeiten wie solche des untersuchten Gegenstandes. Besonders ins Gewicht fallen kann das, wenn der dokumentierte Gegenstand die Praktiken einer Kultur sind, die sich stark von der eigenen Alltagswelt unterscheiden. Als Carlos Casas vor einiger Zeit zahlreiche Tondokumente von den philippinischen Aeta aufgezeichnet hatte, blieben diese zunächst auf Jahre liegen, denn allein die Frage, wie das ethnografische Material eigentlich präsentiert werden sollte, erwies sich bereits als solide Herausforderung.

Die Aeta sind eine Reihe ethnischer Gruppen, die bis in die frühen 90er in der Nähe des Pinatubo-Vulkans auf der Insel Luzon ihre tradierte Lebensweise als halbsesshafte Jäger, Sammler und Kleinbauern führte und im Unterschied zur philippinischen Mehrheitsgesellschaft eine animistische Religion praktiziert. Man vermutet in ihnen die Nachfahren einer der ältesten Bevölkerungsgruppen, die auf dem Archipel siedelten. Aeta sind seit jeher für ihre starke Resistenz gegenüber Veränderungen bekannt, wissen sich jedoch meist sehr gut mit unvorhersehbaren Situationen zu arrangieren. Als im Jahr 1991 ein Vulkanausbruch weite Teile ihres Lebensraumes verwüstete, mussten viele in benachbarte Regionen umsiedeln. Ihr angestammtes Land und der Wunsch nach Rückkehr spielte fortan eine große Rolle in der Gedanken- und Gefühlswelt dieser Menschen.

Als sich Casas im Rahmen eines Filmprojektes auf den Philippinen aufhielt und zufällig mit den Aeta in Kontakt kam, beeindruckte ihn auch dieser für Fremde obsessiv wirkende Fokus auf den früheren Siedlungsraum, in den mittlerweile einige wieder zurückzukehren konnten, und in der Zwischenzeit gelang es ihnen auch, einen Vertrag mit der Regierung über ein dauerhaftes Wohnrecht zu ratifizieren. Casas lebte einige Zeit in ihren halbbefestigten Ortschaften, begleitete Männer bei der Fledermaus- und Schweinejagd, leistete anderen Dorfbewohnern bei ihren Arbeiten Gesellschaft, nahm an Festenund religiösen Ritualen teil, und stets machte er Aufnahmen von charakteristischen Klängen dieser Aktivitäten.

Die Idee zur vorliegenden Veröffentlichung entstand im Gespräch mit Discrepant, die bereits sein in Tadschikistan aufgenommenes Material unter dem Titel “Pyramid of Skulls” herausgebracht hatten. Nach reiflicher Überlegung entschied sich Casas, den Stoff in unterschiedlichen Formen aufzubereiten, die sich im Resultat kaum mehr gleichen. “Kamana”, benannt nach diversen Geistwesen aus der Mythologie der Aeta, enthält also eine LP, eine CD, eine 7″ und ein über den beiliegenden DL-Code erhältliches digitales Release. Letzteres präsentiert die reinen Feldaufnahmen, die in den Ortschaften und der umliegenden Natur gemacht wurden, dem recht nah kommt die Single mit einem Interview mit einem Fledermausjäger, das einige Hintergründe erhellt.

Casas wollte diesmal jedoch – in den Worten des Labels – vom Realen ins Imaginäre weitergehen, die Aufnahmen also in ein vielfach bearbeitetes Kollagenwerk transformieren, das dem Auge und Ohr des Dokumentators Rechnung trägt. Wer sich für diese sekundären, nach eigener Angabe an Künstlern wie Zoviet France und Muslimgauze orientierten Aufnahmen interessiert, darf die LP als Herzstück der Box betrachten. Natürlich gibt es Gemeinsames mit den ursprünglichen Aufnahmen: Vögel, das Hantieren von Menschen, brummend Motoren, später das Knacken von Zweigen und der rauschende Wind. Selbst wenn irgendwann ein hölzerner Takt “Musikalisches” einbringt, erhält sich in der Repetition eine gewisse Unregelmäßigkeit, die wie eine Hommage an Natur und Leben klingt. In manchen Tracks wird aus dem Material groovige Rhythmen technoider Art destilliert. Andere Stücke wirken hörspielartig, lassen einen an einer langsamen Pirsch durch dichtes Gestrüpp teilhaben, während Stimmen in einer fremden Sprache für unterschwellige Dramatik sorgen.

In manchen Stücken demonstriert Casas besonders deutlich, dass er Musiker ist und verwandelt das Material durch an Synthies erinnernde Sounds in eine Szene wie aus einem Giallo oder durch übersteuerung für Momente in puren Noise. An solche Momente knüpft auch die beiliegende CD an, deren über eine Stunde gehende Track “Katapusan” im Fire And Mud Mix eine weitere Meditation des Künstlers über die typischen Klänge im Alltag der Aeta präsentiert.

In seiner Gesamtheit ist “Kamana” also nicht nur ein Dokument über eine den meisten Menschen unbekannte Kultur und der Klänge ihrer Lebenswelt, sondern ein ebenso anschauliches Dokument einer Begegnungüber klangliche und kulturelle Grenzen hinweg. Gerade die Parallelität aus beidem macht die Veröffentlichung zu einer besonderen. (U.S.)

Label: Discrepant