Wenn in den letzten Jahren von Maurizio Bianchi die Rede war, dann geschah dies wieder vermehrt im Zusammenhang seiner früheren Aufnahmen, die dem gerade in seine “Post”-Phase übergehenden Industrial der Jahre um 1980 – zunächst unter dem Pseudonym Sacher-Pelz, bald unter seinen Initialen M.B. – eine vielleicht etwas weniger aggressive, dafür aber umso desolatere “Low Key Depression”-Variante zur Seite stellte, die später zu einem zentralen Einfluss für zahlreiche Acts von Atrax Morgue über The Haters bis hin zu Controlled Death werden sollte. In den 90ern wurde seine Musik merklich harmonischer, und der bisweilen kosmisch-ambiente Grundtenor einiger Aufnahmen und Bekenntnisse wie “I love life and I hate death” brachten ihm in vorschnellen Kommentaren bereits den New Age-Stempel ein. Über seine mittlerweile enorme Diskografie, seine mehrjährige Schaffenspause seit seiner Konversion zu den Zeugen Jehovas 1984, seine häufigen Bekenntnisse zu Freiheit und Unabhängigkeit des Denkens und Handelns und seine zahlreichen Kollaborationen in späteren Jahren ist viel geschrieben worden. Anlass zu unserem Interview, in dem Bianchi immer wieder bezug auf die Wirkungsintentionen seiner Musik nimmt, gab die Wiederveröffentlichung der beiden Klassiker “Armaghedon” (1984) und “The Plain Truth” (1983) über das spanische Label Verlag System.
Letztes Jahr wurden deine frühen Alben “The Plain Truth” und “Armaghedon” von Verlags System neu veröffentlicht. War es deine Idee, sie wieder herauszubringen, und was bedeuten diese Platten heute für dich?
Es war eine schöne Initiative von Verlag System, und sie kam zum richtigen Zeitpunkt. Die beiden Werke waren schon vor Jahren auf Vinyl neu aufgelegt worden, allerdings in einer Aufmachung, die der Bedeutung ihrer unterschwelligen Botschaften nicht gerecht wurde, während nun die prächtige Neuauflage deren Tiefe und stringente Kraft hervorhebt. In der Tat stellen diese beiden Werke auch heute noch den Höhepunkt meiner künstlerischen Laufbahn der ersten Periode dar, da sie eine relavente, zusammenfassende Botschaft enthalten.
In seinem Begleittext zur Wiederveröffentlichung von “The Plain Truth” erwähnt Gary Mundy eine sehr glückliche, lebensverändernde Erfahrung, die sich wahrscheinlich auf deine religiöse Konversion bezieht. Fühlst du dich immer noch mit diesen Erfahrungen verbunden, wenn du dir die Platte noch einmal anhörst?
Das stimmt, vor allem bei “The Plain Truth”, in das ich meine persönliche Entdeckung der existenziellen Wahrheit und der spirituellen Reinheit einbringen wollte. Während “Armaghedon” eine realistischere Sichtweise auf die “wahre Apokalypse” hervorhebt, d.h. den Vorboten einer neuen Ära des Friedens und der Gelassenheit für die gesamte Menschheit, die von ihrem Todesurteil befreit ist.
Würdest du sagen, dass deine veränderte Einstellung zur Welt zu einer Veränderung deiner musikalischen Richtung und/oder deiner kompositorische Herangehensweise geführt hat?
Es ist nicht an mir, diesen Wandel zu definieren, denn er ist für das Ohr, aber vor allem für das Herz eines jeden aufmerksamen Hörers dieser Botschaft der wahren Hoffnung offensichtlich.
Auf einer Notiz auf der Rückseite des Covers hast du dieses Album “all den erlösten Menschen” gewidmet. Gab es Diskussionen über diese Musik mit Menschen, die deine religiösen Überzeugungen teilen, und wenn ja, was waren die interessantesten Kommentare dazu?
Tatsächlich gab es gar keine Diskussionen mit irgendjemandem, weil der tiefe Respekt, den meine Glaubensgenossen mir gegenüber haben, wirklich auf höchstem Niveau ist.
Gab es jemals eine Situation, in der jemand völlig missverstanden hat, was du mit einer Veröffentlichung zum Ausdruck bringen wolltest?
Es gab einige Leute, vor allem als ich nach meiner Rückkehr 1997 die Trilogie “Colori” / “First Day Last Day” / “Dates” veröffentlichte, die mich als Vertreter der “New Age”-Musik einstuften, obwohl die Klangbotschaft, die ich damit vermitteln wollte, über das Konzept der “New Age”-Strömung hinausging, da sie sich dem Wesen der menschlichen Seele auf der Suche nach einer endgültigen emotionalen Befreiung näherte.
Gibt es Pläne, in Zukunft weitere deiner frühen Veröffentlichungen wieder zugänglich zu machen?
Ich habe sorgfältig geplante Wiederveröffentlichungen von “Das Testament” und “Carcinosi” auf CD bei einem renommierten italienisch-schweizerischen Label.
Du bist unglaublich produktiv, und es gibt mittlerweile ein riesiges Werk. Welche Alben würdest du wählen, wenn du jemandem, der dich und deine Musik noch nicht kennt, einen geeigneten Einstieg geben möchtest?
Für die erste Periode eine “angepasste” Anthologie mit dem Titel “Technology 1980-1984″, die im Januar 2022 bei einem türkischen Label ausschließlich auf Kassette erscheinen wird. Für die zweite Periode, zusätzlich zu der oben erwähnten Trilogie, macht es keinen Unterschied, über welche Veröffentlichung man sich meinem experimentellen Universum nähere, wichtig ist, dass man es mit einer befreiten Haltung macht.
Inwieweit hat sich deine Herangehensweise an das Musikmachen und deine künstlerische Einstellung im Laufe der Jahre verändert? Was sind – neben den unterschiedlichen technischen Möglichkeiten natürlich – die größten Unterschiede zwischen deiner Arbeitsweise damals und heute?
Im Allgemeinen ist meine experimentelle Herangehensweise fast unverändert geblieben, da ich immer von dem modulierenden Wunsch und dem Willen beseelt bin, immer etwas Konkretes und Neues zu schaffen. Was die verwendeten Technologien angeht, so lege ich mehr Wert auf die Substanz, da die Technik nur ein Mittel ist, um das Ziel der Erbauung des Zuhörers zu erreichen.
Arbeitest du zur Zeit an neuer Musik?
Im Moment konzentriere ich mich auf die visuelle Kunst. Tatsächlich wird ein experimenteller Film von mir mit dem Titel MILFB (unbearbeiteter Soundtrack) später in diesem Jahr auf DVD erscheinen.
Vor einigen Jahren hast du den Begriff “Anarchophonic” für die Art von Musik, die du machst, geprägt. Würdest du diesen Begriff immer noch verwenden, und was worin würdest du das anarchischste Element deiner kreativen Herangehensweise sehen?
Ich würde diesen Begriff nicht mehr verwenden, weil meine musikalische Entwicklung immer nach vorne gerichtet ist, aber ich muss zugeben, dass ich mir immer noch einen unkonventionellen Geist bewahrt habe, der über jede akademische Bedeutung des Begriffs “Musik” hinausgeht. Das erlaubt mir, immer neue Wege zu gehen, um die Unendlichkeit zu erreichen.
Du hast mit einer Reihe von Künstlern zusammengearbeitet. Gehst du an jede Zusammenarbeit anders heran oder gibt es immer eine ähnliche Methode?
Es gibt fast immer eine konventionelle Methode, die jedes Projekt begleitet. Zuerst schicke ich dem Künstler mein pathologisches Material, das als “Basisleitfaden” dient, auf dem der Kollaborateur dann seinen kontaminierenden Eingriff neu gestaltet, um ein homogenes und kompaktes Amalgam zu erschaffen.
Eine ziemlich aktuelle Zusammenarbeit ist die mit Justin Wiggan. Darin heißt es, dass die Veröffentlichung stark von dem hebräischen Begriff sheminith beeinflusst ist. Könntest du ein paar Worte zu dieser Veröffentlichung sagen und wie die Idee für dieses Konzept entstanden ist?
Es ist besser ihn (Justin Wiggan) zu fragen, da die Idee von ihm stammt.
Irgendwelche “famous last words”?
Es kommt nicht auf meine Erklärung an, ich beziehe mich stattdessen auf das, was in einem alten Text geschrieben steht: “Ich habe alles gesehen, was unter der Sonne geschieht, und siehe, es ist alles eitel und ein Haschen nach Wind” (Prediger 1,14). Dies ist also eine Warnung an alle, sich auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben zu konzentrieren und nicht auf die von den Massenmedien auferlegte Sinnlosigkeit.
Interview: MG & US, Übersetzung: A. Kaudaht