Demian Recio alias Ô Paradis hat in den vergangenen gut 25 Jahren zahlreiche Alben und kleinere Veröffentlichungen herausgebracht. Da vieles davon in kleinen Auflagen bei ebenso kleinen Labels erschienen ist, lief man immer mal Gefahr, das eine oder andere Release zu verpassen. Im Falle des vor einigen Wochen erschienenen “El Anfitrión” wäre das aber ausgesprochen schade, denn es handelt sich um ein atmosphärisch dichtes, von der Machart reichhaltiges Album, das eine charakteristische Handschrift offenbart, sobald man die bei dem Projekt oft notwendige Eingewöhnungsphase hinter sich hat.
Der Selbstbeschreibung auf den gängigen Plattformen zufolge erzählt “El Anfitrión” die Geschichte einer Reise hinter den Spiegel in ein seltsam wunderkammerartiges Gebäude, unter dem man sich eine traumhafte Kehrseite der Alltagswelt, aber auch gerade diese angesichts einer realeren, himmlischen Welt vorstellen kann. Die einzelnen Stücke sind wie Stationen eines surrealen Kammerspiels, das diesen Ort nie verlässt. Der titelgebende Anfitrión – der Gastgeber – ist eine in den Texten mehrfach auftauchend Figur, die dennoch merkwürdig obskur bleibt. Ist damit Jungs Schatten gemeint? Vielleicht würde man etwas mehr erfahren, wäre man des Spanischen mächtig.
Musikalisch zählt “El Anfitrión” zu den von filigraner, melancholisch-tänzelnder Elektronik geprägten Alben und lässt sich grob mit zurückliegenden Werken wie “Naciemento” (2014) oder “Maya Convoi” (2017) vergleichen. Es dauert aber eine Weile, bis die Musik diesen Zug vollends offenbart, denn zu Beginn ziehen einen verfremdete Violaklänge, nicht ganz ohne Rauheit, in ein feierlich-dunkles Setting. Begleitet von Eispickeltakten sagt eine Frauenstimme “es sind die Toten”.
Es ist interessant zu wissen, dass es sich dabei um ein Sample aus Jean Rollins Film La Rose de Fer (Die eiserne Rose) von 1973 handelt. In dem allgemein dem “Horrordrama” zugerechneten neosurrealistischen Film besucht ein junges Pärchen kurz vor Torschluss einen alten pittoresken Friedhof und verbringt dort die Nacht. Irgendwann verlieren die beiden die Lust und wollen über eine Mauer nach draußen klettern. Aus rational nicht nachvollziehbaren Gründen kommt ihnen allerdings immer etwas dazwischen, irgendeine Idee bringt sie dazu, noch einmal einen anderen Ort auf dem Friedhof aufzusuchen und so ergibt es sich, dass sie den Ort niemehr verlassen werden.
Je weiter man in das Album vordringt, desto mehr erscheinen einem auch die einzelnen Songs wie Orte in einer abgeschlossenen Welt. Ein elektronisch-akustischer Sound, dessen Gebilde wie ein derangierter und in seine Bestandteile zerfletterter Pop klingt, verbindet all die unterschiedlichen Tracks. Das von einem schleppenden Klatschen getaktete “Omnipresente”, dessen erschöpfter Gesang immer noch zu hochtönenden Volten fähig ist; der trunken tänzelnde Schmachtfetzen “SuperNova”, der zum Ende hin noch einmal mächtig in Fahrt gerät; “Tout L’Esperance”, eine Ode an die Hoffnung, die wie ein waghalsiger Gang auf Stelzen anmutet; die beinahe akustische Postpunkballade “Siervos”; “Angel”, das wie ein eleganter Catwalk durch eine Welt voll mit metallenem Schrott führt.
Dann “Inspiral”, das klassischen Synthiepop dekonstruiert und (dennoch) der mitreißendste Ohrwurm des Albums ist; “Tabula Rasa” mit dem typischen Triphopsound aus Demians Hexenküche; der Titelsong, bei dem betont nachlässige Takte und der Klang weitgespannter Saiten wie zwei überblendete Bilder übereinander liegen, während Demians Stimme im Duett mit sich selbst durch den Raum schwebt. In diesen und einigen weiteren Songs füllt eine leise Melancholie, die nicht frei von augenzwinkernder Heiterkeit ist, einen Schauplatz, der gerade aufgrund seines fragmentarischen Charakters so wirklich scheint.
Kommt man je heraus aus dieser Heterotopie? Das Pärchen in Rollins Eiserner Rose schafft es nicht, den Friedhof lebend zu verlassen. In Luis Buñuels El Ángel Exterminador (1962), ein in vieler Hinsicht ähnlich gearteter Film, findet ein Kind den Weg aus der opulenten Villa, die ihre Besucher gefangen hält. Auch die Parallelwelt des Anfitrión entfaltet diesen Reiz, und wer weiß, vielleicht ist der Bann ja schon gesprochen, wenn man an den Ausgang gar nicht denkt und sich stattdessen anschickt, die Platte erneut abzuspielen. (U.S.)
Label: Grabaciones Sentimentales