In den letzten Jahren war es still um Diamanda Galás geworden: Zum einen pflegte sie ihre kranke Mutter, zum anderen versuchte sie, die Rechte an ihren alten Alben wiederzuerlangen – was ihr schließlich auch gelang. Auf ihrem eigenen Label Intravenal Sound Operations veröffentlichte sie dann Livealben wie auch Neuauflagen von „The Litanies Of Satan“, „Diamanda Galás“ und zuletzt noch „The Divine Punishment“, dem ersten Teil ihrer sogenannten – aus diesem, „Saint Of The Pit“ und „You Must Be Certain Of The Devil“ bestehenden – „Masque Of The Red Death“-Trilogie, die sie später live in der New Yorker Cathedral of St. John the Divine als „Plaque Mass“ aufführen sollte – als eine vehemente Anklage gegen den Umgang mit HIV-Positiven in der amerikanischen Gesellschaft.
Immer wieder thematisierte sie auf ihren Alben psychische und physische Deformationen (so etwa auf „Schrei X“ oder „Vena Cava“), aber dazu gab es auch (beginnend mit „The Singer“) (Live- wie Studio-)Alben mit ihren ganz eigenen Interpretationen von Blues, Gospel- und Soulstücken. So konzeptionell dicht wie auf der oben genannten Trilogie sollte Galás erst wieder auf dem 2003 erschienenen Doppelalbum „Defixiones, Will and Testament“ arbeiten, ihrer Auseinandersetzung u.a. mit dem Genozid an den Armeniern, auf dem sich eine wahrlich beklemmende Interpretation von Paul Celans „Todesfuge“ fand.
Seit einigen Jahren schon beschäftigt sich Galás mit Georg Heyms Gedicht „Das Fieberspital“, woraus schließlich das neue Album „Broken Gargoyles“ entstand. 2020 erschien die instrumentale EP „De-formation: Piano Variations”, die Bezug auf Heym nahm, 2021 wurde „Broken Gargoyles“ als Klangnstallation in der Nikolaikapelle in Hannover aufgeführt und schließlich erscheint nun das langerwartete komplette Studioalbum.
Das lyrische Werk des früh verstorbenen Heym ist formal zwar recht konventionell (regelmäßiges Reimschema und Metrum, häufig die Sonettform), modern aber in der in ihrer Konsequenz und Konsistenz beeindruckenden Thematik und Bildlichkeit: In seinen mythischen Personenallegorien wie „Der Gott der Stadt“ oder in seiner Abarbeitung an Selbstmördern, Kranken, „Irren“, Versehrten oder dem Opheliamotiv präsentierte sich ein wahrer Visionär des Todes, der in seinem kurzen Leben wie manisch hunderte von Gedichten sowie Dramen und Prosa verfasste.
Aufgeteilt in zwei lange Stücke, beginnt das Album mit dem ursprünglich schon 2012/2013 aufgenommenen „Mutilatus“, auf dem Galás „Das Fieberspital“ und „Die Dämonen der Städte“ vertont. Klavier verhallt, Galas’ Stimme rezitiert die Texte, als sei sie von den titelgebenden Entitäten besessen, man hört Wehklagen, eine Evokation der „dünne[n] Marionetten“: „Das Fieber donnert. Ihre Eingeweide/Brennen wie Berge“. Galás’ Stimme wird vervielfältigt, wie eine biblische Plage, wie ein Schwarm Heuschrecken bricht sie über den Hörer hinein, vielleicht ist das auch nur das Geräusch der „Moskitos [, die] summen“. Dann am Ende, unter keckerndem Lachen, unter Schreien, die Beschreibung der Geburt eines kopflosen Kindes, das der Mutter den „Schoß“ entzweireißt. Auf dem zweiten Teil „Abiectio“ interpretiert sie Heyms Gedichte „Der Blinde“ und „Der Hunger“ und zeigt auch hier den Menschen in all seiner Kreatürlichkeit. Die Stimme wird zum Schrei, zum Gestammel, ist verzerrt, verfremdet und lässt an einen Patienten mit Kehlkopfkrebs denken. Hier wird das ganze Grauen des Nicht-sehen-Könnens deutlich: „Stets durch Grabesnacht/Und rote Dunkelheit werd ich gebracht/In grauenvollem Fasten und Karenz.“ Dazu tönen Drones wie Sirenen. Im Sonett „Der Hunger“ heißt es: „Drin Feuer sickert, langsam, tropfenweis,/Das ihm den Bauch verbrennt.“ Diese beiden Texte zeigen, wie sehr der Mensch doch Fleisch ist. Während der erste Teil des Albums durch Pianopassagen gerahmt wird, arbeitet der zweite Teil noch stärker mit Dissonanzen, nähert sich in Teilen fast schon dem Industrial. Der Titel des Albums verweist auf Ernst Friedrichs Fotoband „Krieg dem Kriege“, der die Gesichter derer zeigt, die im Krieg verstümmelt und entstellt worden sind.
Jetzt kann man zu Recht einwenden, dass irritierende, extreme, verstörende Musik letztlich trotz aller Drastik auch nicht nur ansatzweise das Grauen und den Schmerz der Verstümmelten und Versehrten wiedergeben kann, denn „Schmerz entzieht sich der Empathie“ (Trutz von Trotha) und letztlich auch der angemessenen künstlerischen Repräsentation. Das, was das Resultat „der finsteren Wolfsnatur der Menschen“ (Wolfgang Sofsky) ist, lässt sich nicht (er-)fassbar machen: Der Mensch ist Fleisch und dieses Fleisch ist fortwährend der Möglichkeit des Schlachtens und des Zerrissenwerdens ausgesetzt. Es gibt wahrscheinlich kaum weniger dumme Äußerungen als den Ausruf „Das ist ja unvorstellbar“ angesichts der Verheerungen und Grausamkeiten, denen sich der Homo sapiens schuldig gemacht hat und fortwährend macht. Der obige Satz mag der Psychohygiene dienen, ist aber letzten Endes unfassbar naiv, denn die Massaker und Grauen haben stattgefunden – und zwar gerade deswegen, weil sie vorstellbar waren.
Wenn man der Kunst aber nicht aufbürdet, eine völlig adäquate Repräsentation der Wirklichkeit zu sein, dann nähert sich „Broken Gargoyles“, das vielleicht stärkste Album Galás’ seit langem, sehr stark einer zumindest im Ansatz angemessenen Vertonung des Schmerze(n)s, die so beeindruckend wie irritierend und beängstigend ist. (MG)
Label: Intravenal Sound Operations