Kristin Hayter hat auf den ersten Lingua Ignota-Veröffentlichungen (ihr Debüt “Let The Evil Of His Own Lips Cover Him” wurde kürzlich auf Vinyl wiederveröffentlicht), den rächenden alttestamentarischen Gott angerufen, damit er all die (be-)strafe, die ihr Schmerz zugefügt hatten. Bzgl. der Wiederveröffentlichung des zweiten Albums „All Bitches Die“ auf Profound Lore konnte man hier lesen: „Hayter selbst bezeichnet ‘All Bitches Die’ als ‘retribution’ und jede Zeile der von biblischer Metaphorik durchzogenen Texte illustriert das: Das Projekt Lingua Ignota knüpft an eine Uniarbeit Hayters an und soll ‘misogynist content as biblically vitriolic anthems for survivors of domestic violence and sexual assault’ rekontextualisieren.“
Musikalisch kombinierte und collagierte Hayter Elemente von Noise und Metal mit Klavier und ihrer Stimme, um wütende, über weite Strecken aufwühlende wie aufregende Musik zu machen. Ihr letztes, auf Sargeant House veröffentlichtes Album „Sinner Get Ready“ knüpfte zwar thematisch an die Vorgänger an, änderte aber etwas die musikalische Ausrichtung: „Zwar sind Metaphorik, Thematik und Gesang (weitgehend) gleichgeblieben, aber die Elemente extremerer Musikformen sind fast völlig weggefallen. Stattdessen integrierte Hayter, die zu dem Zeitpunkt der Aufnahmen – inmitten der Pandemie recht isoliert – in Pennsylvania lebte, lokale akustische Instrumente.“
Hayter hatte letztes Jahr das Ende ihres Projekts in seiner bisherigen Form angekündigt: ” I will not allow my wounds to destroy me. I want to live a healthy, happy life and have changed much in myself and my surroundings to bring light in. As such the art has to change too. It is not healthy for me to relive my worst experiences over and over through ” Nach der Gründung von Perpetual Flame Ministries, auf deren Seite es heißt: „today shalt thou be with me in paradise“ und sich sogar eine Hotline findet, über die man Neuigkeiten erfahren kann, erscheint nun mit „Saved!“ ein Album unter dem neuen Namen Reverend Kristin Michael Hayter. Die religiöse Metaphorik und Ikonographie, die die ersten Lingua Ignota-Alben prägten, sind hier durch eine weitgehend ungebrochenere und (im doppelten Wortsinne) affirmativere Herangehensweise gekennzeichnet. Wenn man so will eine Reise vom zornigen Demiurgos des Alten zum liebenden Zimmermann des Neuen Testaments.
Musikalisch, sowohl bei den Eigenkompositionen als auch bei den Covern, findet zum großen Teil eine Fokussierung auf Stimme und Klavier statt, „PREPARED WITH BELLS AND CHAINS“. Auf dem Eröffnungsstück „I’m Getting Out While I Can“ singt sie: „On Judgment Day do you know where you’ll stand/I’m gonna sing with the celestial band/ I’m getting out, getting out while I can“, wobei durch scheinbare Aufnahmedisruptionen zu Beginn und während des Stücks der Eindruck entsteht, das Band leiere, löse sich auf. Gegen Ende spricht sie in Zungen. „All Of My Friends Are Going To Hell“ mit einem Text, der (un-?)absichtlich an den Hochmut der “Geretteten!” erinnert (“All of my friends are going to Hell/None of them care from what I can tell/But I wanna rise from the place where I fell/Jesus said get some new friends/Cause these ones are going to Hell”) und Klavierspiel, wie man es vielleicht auch von Diamanda Galás hören könnte, geht über in „There’s Power In The Blood“: ein mehrstimmes Gospelstück mit so typischer Call and response-Struktur: „There is pow’r, pow’r, wonder-working pow’/In the blood of the Lamb;“. Darauf folgt hre Interpretation von „Idumea“ (das Current 93s auf „Black Ships Ate The Sky“ extensiv coverten). Hayters von leicht dissonantem Klavier und getragenem mehrstimmigen Gesang durchzogene Version klingt düster, ganz so, als wisse sie nicht, wie der Richterspruch ausfallen wird und ob er “Eternal happiness or woe” bringt. Auf der Klavierballade „I Will Be With You Always“ scheint die eigene Vergangenheit mit ihrem neuen Selbst kontratsiert zu werden: „Once I was as ugly as a harpy-bitten tree/And every voice within me spoke – you will never be free/Once I was as ugly as a harpy-bitten tree/But today I am as perfect as a single blade of grass/Because I am free.“ Das Bild der Neu-, der Wiedergeburt wird auch auf dem Video zu „All Of My Friends…“ aufgegriffen:
Auf der Rückseite des Albums heißt es: “To live…ye must be born again”. Es folgt das Countrystück „Precious Lord, Take My Hand“ mit Klatschen und Akustikgitarre. Ein scheinbar verstimmtes Piano leitet „May This Comfort and Protect You“ ein, bevor sie „The Wayfaring Stranger“ sehr getragen interpretiert. Als Kontrast dazu folgt das kurze, begeistert vorgetragene „Nothing But The Blood“. Auf der wunderschönen Pianoballade „I Know His Blood Can Make Me Whole”, ihrer Interpretation des Blind Willie Johnson-Stücks, gibt es stimmlich beeindruckende Momente. Den Abschluss bildet das 8-minütige „How Can I Keep From Singing“; das eigentlich harmonische Stück wird kontrastiert mit Hayters Heulen, Weinen und Husten, das in der emotionalen Selbtoffenbarung durchaus verstörend ist. Wie auch immer man zu Hayters Wandlung stehen mag – genug andere (man denke an Huysmans) haben ähnliche Entwicklungen durchlaufen – sei dahingestellt, “Saved!” ist ein durchgängig beeindruckendes Album, das man genießen kann, auch wenn man keinerlei spiritueller Erleuchtung bedarf.
Label: Perpetual Flame Ministries