In Musikerkreisen gibt es den – gar nicht realitätsfernen – Mythos des schwierigen zweiten Albums, mit dem man, im Unterschied zu einem von allerlei Überraschungseffekten profitierenden Debüt, zwangsläufig auf gewisse Erwartungen reagiert, ganz zu schweigen von der Frage, ob der Ideenfundus des Musikers oder der Band immer noch ausreicht, um etwas relevantes neues auf die Beine zu stellen. Anders verhält es sich natürlich, wenn zwischen dem ersten und dem zweiten Album fast ein Vierteljahrhundert an Zeit verstrichen ist – eine Zeit, in der die alten Verdienste nicht mehr in jedermanns Gedächtnis lebendig sind und sich eine Menge neuer Ideen angesammelt haben. So ähnlich war er bei L’Eglise du Mouvement Péristaltique Inversé, dem kurz nach dem Millenium gegründeten Duo des Sängers und Producers Nicolai Riccardo Grey (als Nick Grey bekannt als Solist und Bandleader) und des Gitarristen Charles Pietri, der in den vergangenen Jahren u.a. als Fotograf aktiv war. Vor einigen Wochen erschien ihr zweiter Longplayer “Le Peintre du Soir”, dessen eingängiger und zugleich experimentierfreudiger Stil irgendwo zwischen retrolastigem Pop und Wave, dunklen dystopischen Rockelementen und dramatischen Texten die Reife eines Opus Magnum und die Frische eines Debüts aufweist. Da das Album reich an Referenzen und doppelten Böden ist, gab es genug Stoff für das vorliegende Interview, in welchem man u.a. erfährt, dass L’Eglise du Mouvement Péristaltique mittlerweile zweimal existiert.
Englische | Französische Version
Ihr habt gerade ein Album mit dem Titel „Le Peintre du Soir“ veröffentlicht und viele unserer Leser werden von eurer Band jetzt wahrscheinlich zum ersten Mal hören. Tatsächlich ist dieses Album aber euer zweites, denn euer Debüt liegt schon 21 Jahre zurück. Könnt ihr uns eure beiden Bandmitglieder und euren Hintergrund vorstellen?
Nicolai: Genauer gesagt vor 22 Jahren, denn unser erstes Album erschien 2001 auf dem Pariser Label Brume Records. Wir besetzen in diesem Projekt immer noch die gleichen Rollen wie damals: Charles spielt Gitarre, ich singe und spiele Synthesizer. Privat habe ich zwischen 2003 und 2015 auch eine bestimmte Anzahl von Platten unter dem Namen Nick Grey veröffentlicht, alleine oder mit Kollaborateuren.
Charles: Ich hatte 22 Jahre lang keine Gitarre mehr angefasst. Sie wurde sorgfältig in ihrem Koffer aufbewahrt, während wir darauf warteten, dass die Band wieder zusammenkam. Während dieser Zeit widmete ich mich anderen Projekten, insbesondere im Bereich der Fotografie.
Hattet ihr auch während eurer langen Bandpause engen Kontakt? Wenn ich mich recht erinnere, war Charles auch an einigen Veröffentlichungen von Nick Grey and the Random Orchestra beteiligt.
Charles: Tatsächlich habe ich an „Regal Daylight“, dem ersten Album von Nick Grey, mitgearbeitet und einige Gitarrenparts aufgenommen. Aber ich glaube, mein eher minimalistisches, wenn nicht gar träges Gitarrenspiel passte nicht wirklich zur Entwicklung des Projekts. Später führten verschiedene Lebensereignisse dazu, dass ich die Musik beiseite legen musste.
Nicolai: Du hast auch auf der EP „Candlelight Eyes“ mitgespielt, die in einem sehr limitierten Format veröffentlicht wurde, aber immer noch eine meiner Lieblingsplatten von Nick Grey ist.
Wie kam es zu der Idee, L’Eglise wiederzubeleben?
Nicolai: Wir haben uns vor zwei Jahren zu einem feierlicheren Anlass als den anderen wieder getroffen, auch in Anwesenheit anderer Leute, und wir haben direkter über die Vergangenheit gesprochen. Sehr schnell fiel der Satz: „Lasst uns zwanzig Jahre nach dem ersten ein zweites Album aufnehmen“. Ich glaube, dass es diesmal zwei Elemente waren, die es ermöglichten, „einen Pakt zu besiegeln“: erstens die Anwesenheit Dritter, die uns zwangen, Verantwortung für das zu übernehmen, was wir ankündigten, und dann auch eine Frage der Zeitlichkeit. Es war einfach zu schön, das schwierige zweite Album zwanzig Jahre nach dem ersten zu veröffentlichen. Dann geschah alles mit erstaunlicher Geschwindigkeit: Wir nahmen in wenigen Wochen etwa zehn Songs auf, kontaktierten Ian Caple, dem unsere Musik gefiel und der sich bereit erklärte, das Album (wunderbar) zu mischen usw. Ich denke, dass diese deutliche Beschleunigung auf dieser zweiten CD ein wenig zu spüren ist, die die Frische, aber auch die Unvollkommenheiten einer ersten Platte hat.
Charles: Ich würde sogar sagen, dass diese Platte mehrere Rollen vereint: Sie ist einerseits ein zweites erstes Album, da wir von vorne anfangen, andererseits aber auch ein zweites Album im wahrsten Sinne des Wortes, da es eine Fortsetzung des vorherigen ist. Es ist auch das Album unserer Reife, da seine Grundlagen solide sind, wir die Richtung, in die wir gehen wollten, etwas besser beherrschen und auch Reife im wahrsten Sinne des Wortes, da wir jetzt alt sind.
Habt ihr alle Songs zusammen geschrieben und produziert, oder war es eher so, dass einer von euch eine Idee hatte und der Rest sich nach und nach ergeben hat?
Nicolai: Wenn das für Sie in Ordnung ist, sollten wir unsere internen Abläufe lieber geheim halten – nicht aus Eitelkeit, sondern vielleicht aufgrund einer Art archaischen Aberglaubens. Sagen wir einfach, unsere Arbeitsweise basiert auf Freundschaft. So haben wir schon immer gearbeitet. Charles ist nicht nur talentiert, sondern auch extrem intuitiv: Die Kommunikation ist immer fließend. Wenn ein Konflikt entsteht, wird er durch ein Ritual erstickt, aufgelöst oder verwässert. Dieses Ritual kann die Form eines Kochwettbewerbs annehmen, eines Duells (um jeden Vorteil zu vermeiden, bevorzugen wir unangenehme Instrumente, die keiner von uns beherrscht, wie die Flöte oder das Didgeridoo) oder, wenn wir in besonders männlicher Stimmung sind, des Armdrückens. Diese letzte Option bringt jedoch ein Problem mit sich: Da unsere Muskeln unterentwickelt sind, müssen wir Seeleute oder Bergsteiger rekrutieren, die uns körperlich ähneln, um das Armdrücken für uns zu übernehmen. Das ist ein kostspieliges, langwieriges und schwieriges Verfahren – insbesondere, da wir auch schlechte Köche und noch schlechtere Didgeridoo-Spieler sind – weshalb wir Konflikten grundsätzlich aus dem Weg gehen möchten.
Charles: Ich biete schon seit Jahren an, Konflikte mit Schere-Stein-Papier zu lösen, aber bisher war ich damit nicht erfolgreich. Ich hoffe, dass ich ihn eines Tages davon überzeugen kann, ein Coveralbum zu machen, das nur aus Steinen und einer Schere besteht.
Nicolai: Davor sollten wir dein Jazz-Opern-Projekt The primitive flies of Saturn aufnehmen, das du mir gegenüber 2009 in Kopenhagen erwähnt hast.
Charles: … Im Ernst, der kreative Prozess für diese Platte geschah ganz natürlich: Gespräche waren ein wichtiger Teil des Prozesses. Wir sind nicht die Gallagher-Brüder, die sich im Studio gegenseitig mit Dosen warmen Biers bewerfen, wir sitzen lieber da und unterhalten uns, während wir guten Käse essen. Um ihn von den Vorzügen eines Gitarrenelements zu überzeugen, muss ich ihm nur ein saftiges Stück Brie reichen.
Hat sich eure Herangehensweise an Musik und Kreativität im Laufe der Jahre stark verändert und ist euch dies bei der Arbeit an den neuen Songs aufgefallen?
Nicolai: Das Offensichtlichste fällt uns immer erst im Nachhinein auf. Was mir an unserer Arbeitsweise aufgefallen ist, war, dass viel Freude dabei war – die Freude, mit Charles an diesen dunklen und seltsamen Stücken zu arbeiten.
Charles: Ich denke, diese lange Pause hat uns geholfen, unsere Arbeitsweise zu rationalisieren. Wir haben vor dem Beginn des kreativen Prozesses viel miteinander gesprochen, um sicherzustellen, dass wir die gleiche Vision des Projekts haben: Das Ziel ist jetzt einfach, Spaß daran zu haben, gemeinsam Musik zu machen, auf Aufnahmen und live. Da die Grundlagen gesund sind, ist es sehr einfach, uns kreativ gehen zu lassen.
Euer Sound ist vor allem von Elektronik und Gitarre geprägt und euer musikalischer Stil verbindet Pop-Qualitäten mit Experimentierfreude – so viel zu den typischen Musikjournalisten-Floskeln… Hattet ihr vorher eine Vorstellung, wie das Album klingen soll, oder hat sich das alles erst während der Arbeit ergeben?
Nicolai: Etwas paradox ist, dass wir nach zwanzig Jahren Wartezeit in absoluter Eile waren, dieses Album zu schreiben und aufzunehmen. Es war etwas sehr Instinktives, als es entstand: Die Songs mussten raus. Also nein, es gab keine vorgefertigte Absicht, wir waren erstaunt, wie das Ganze so schnell entstand und Gestalt annahm. Trotzdem hast du recht: Die Freude am Experimentieren ist bei uns absolut vorhanden, und genau diese Freude findet ihren Ausdruck in den eher „poppigen“ Klängen unserer Musik.
Charles: Unsere jeweiligen musikalischen Landschaften haben sich in den letzten zwanzig Jahren entwickelt. Obwohl es eine gemeinsame Basis gibt, versuchen wir, die Songs in unterschiedliche Richtungen zu lenken. Manchmal kann meine Gitarre einem Stück eine unerwartete Wendung geben. Ich denke dabei insbesondere an Le Bleu du Ciel, das in seinen frühen Phasen ziemlich rein und trocken war, und dann kam ich mit meiner Gitarre dazu und schüttete Wellen wie traurige Schlagsahne aus.
In Deutschland bezeichnen wir französische Musik, die an die frühen Achtziger erinnert und etwas düster ist, schnell als Cold Wave, was oft zu sehr verallgemeinert ist. Fühlt ihr euch mit solchen Begriffen wohl oder empfindet ihr sie als einschränkend?
Nicolai: Es stört mich nicht, wir haben uns letztendlich das Etikett „Cold Pop“ gegeben, weil eine Entscheidung getroffen werden musste. Natürlich sind wir keine „Cold Pop“-Band. Aber diese allgemeine Markierung hat keine wirkliche Bedeutung, außer als erster Einstiegspunkt zu dienen. Dann liegt es an jeder Interpretation, was sie für ihre Arbeit tut.
Charles: Dem stimme ich nicht zu, wir sind sehr „Cold Pop“. Selbst bei weniger offensichtlichen Stücken wie “Cloaque et Empire” oder “Cadavérologie du couple” wollen wir die Leute zum Tanzen bringen. Natürlich mehr oder weniger ausgeprägt, aber es besteht der Wunsch, auch in den experimentellsten Momenten der Platte eingängig zu bleiben.
Nicolai: Sag nie wieder, wir seien „Cold Pop“ oder ich hole das Didgeridoo raus. Aber ja, Charles hat recht, wir sind keine Art-Rock-Band. Wenn es uns nicht gelingt, den Zuhörern unsere Freude zu vermitteln, scheitern wir bei allem.
Ich bin mir nicht sicher, ob es daran liegt, dass Nick in vielen Stücken rezitiert und nicht singt, aber intuitiv erinnerten mich viele der Songs an dramatische Monologe, die aus dem Theater oder einem Experimentalfilm stammen könnten. Könnt ihr diese Assoziation nachvollziehen?
Nicolai: Sicherlich hat das Projekt eine sehr theatralische Dimension: EMPI ist „eine weitere Bühne“, die auf der Hauptbühne installiert wird. Dem Zuschauer steht es natürlich frei, diese künstlerische Verschiebung zu akzeptieren oder abzulehnen.
Charles: Die Musik ist ziemlich filmisch, jedes Lied hat sein eigenes visuelles Universum, seine Farben, sogar seinen Geruch. Alexandre ist erdig, ein schwerer Schritt auf feuchtem Lehm, während Triptyques de Monarques Assis ein langsames Gleiten auf einem frisch polierten Boden ist.
Der Eröffnungssong „Alexandre“ beispielsweise erinnert an einen mehrdeutigen dramatischen Monolog einer Person, die mit vielen Dingen zu kämpfen hat (und wahrscheinlich auch mit einer Rolle, die sie spielt). Dies gilt umso mehr im Video, in dem Nick eine erschöpfte Persona spielt, die von Charles geschminkt wird. Was für eine Art von Charakter ist dieser Alexandre und was macht ihm in seiner Tirade Sorgen?
Nicolai: Alexandre ist eine Figur auf der Suche nach einem Unterschlupf, einem Tresor: Solange er keinen findet, wird er Korrosion auf seinem Weg verbreiten. Woher kommt sein Aura der Bedrohung? Alexandre weiß, dass die Grenze zwischen Unterschlupf und Gewahrsam schmal ist, also muss er sich seinen eigenen Grenzen und seiner Gebrechlichkeit widersetzen. Er marschiert weiter und ruht sich gelegentlich auf seinem langen Stock aus. Ein Unterschlupf ist ein politischer Raum, ein Schutz vor dem Tod, eine fragile Grenze zwischen Ruhe und Schlaf – zwei Systeme, die von derselben Mechanik beherrscht werden. Alexandre weiß, dass Ruhe, wenn sie ihm aufgezwungen wird, zu einer tödlichen Gefahr wird, also ist er ständig auf der Hut und wandert umher. Alexandre schläft nicht. Schlaflosigkeit ist ein viel sichererer Hafen für die Gespenster seiner offenen Welt.
Im Song „Le Bleu du Ciel“ begegnen wir Figuren aus dem gleichnamigen Roman von Georges Bataille. Es ist schon lange her, dass ich das Buch gelesen habe, aber woran ich mich noch gut erinnere, ist die abgründige und erschöpfte Stimmung in Europa kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Welche Aspekte des Buches haben Sie am meisten inspiriert?
Nicolai: Das ist jetzt schon das zweite Mal, dass ich dich das Wort „erschöpft“ sagen höre. Bist du selbst sehr müde? Das tut mir leid. Kaffee hat bei mir auch keine große Wirkung. Aber ich habe vor kurzem von den Vorzügen von etwas namens Guarana gehört. Ich musste allerdings mit Redbull aufhören, das Zeug hat mich fertig gemacht. Um deine Frage zu beantworten: vielleicht die Figur des Lazare. Der Lazare des Buches ist jedoch nicht der Lazare unseres Liedes, aus verschiedenen Gründen, darunter der offensichtlichste – das Geschlecht –, obwohl es auch Ähnlichkeiten gibt.
Gibt es Ihrer Meinung nach Parallelen zwischen der heutigen Gesellschaft und dem in Batailles Roman beschriebenen Setting? Oder betrachtet ihr den Roman eher als zeitlose Parabel?
Nicolai: Wenn ich Ihre Frage richtig verstehe, fragst du mich, ob wir jetzt in eine Art sadeanische Gesellschaft abgeglitten sind? Ob die letzten Barrieren des 20. Jahrhunderts – Zensur, Unterdrückung usw. –, die die Stabilität der symbolischen Ordnung gewährleisteten, endlich aufgelöst wurden und einem universellen Ausbruch der Perversion Platz gemacht haben? Das glaube ich nicht. Im Gegenteil, es scheint mir, dass wir in einer eher binären und moralischen Ära leben: Soziale Netzwerke sind zum Beispiel sehr mächtige Generatoren normativer Vorschriften. In diesem Sinne würde ich sagen, dass die Themen von Batailles Roman zeitlos sind, ja, wie es Schreiben sein kann, auch wenn der Begriff Parabel mir nicht ganz zusagt.
Wer ist denn eigentlich der Sprecher in diesem Lied? Ich frage das vor allem, weil Nick mit einer künstlichen Falsettstimme singt?
Nicolai: Es ist ein Lied über Trauer, oder besser gesagt Trauern – denn wie du vielleicht weißt, verbirgt eine Trauer immer eine andere. Und doch ist es eine unendliche Litanei imaginärer Trauer, die die Essenz unserer Liebe ausmacht. Während Trauer Korrosion verursacht, einen Bruch des Gleichgewichts, schlägt andererseits unsere romantische Vorstellung vom Tod – immer da, permanent und kreisförmig – eine Rückkehr zur uterinen Ruhe vor. Hier ist ein Zitat nicht von Bataille, sondern aus Flauberts Novembre, das die Art und Weise hervorhebt, wie die fast mystische Kraft des Schreibens auf das instinktive Chaos der Adoleszenz reagiert: „Ich wurde mit dem Wunsch geboren zu sterben“. Unser Lied “Le bleu du ciel” ist eine Hommage an dieses Gefühl, an die Tränen und das Zittern unter der Discokugel.
Das Album scheint eine ganze Reihe literarischer Referenzen zu enthalten, Anspielungen auf Belletristik (neben Bataille auch Margarite Duras), Psychoanalyse (Freud, Lacan) und wahrscheinlich noch mehr. Denkst du, dass diese Stimmen aus der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts im heutigen Zeitalter des Life Coachings und der TikTok-Wissenschaft irgendwie exotisch sind (und daher ernsthaft eine Lücke füllen)?
Nicolai: Ich bin kein Freund der gegenwärtig vorherrschenden Ideologie des Niedergangs. Niedergangsforscher gibt es heutzutage überall! Manche behaupten, es gebe eine allgemeine Verarmung der zeitgenössischen sozialen Bindungen, die die Menschheit an den Rand des Abgrunds der Idiotie treibe. Wir müssen diese Analyse etwas differenzierter angehen, auch wenn das ziemlich erschreckende politische Klima dies ein wenig schwierig macht. Jede Epoche bleibt kulturell reich, und gleichzeitig erscheinen die Stimmen der Vergangenheit als viel mehr als bloße historische Meilensteine. Wenn wir älter werden, scheint es einen Moment zu geben, in dem der Ruf des Altbekannten erklingt: Wir sind dann versucht, Keanes „Something Only We Know“ bis zum Ende unserer Tage in Dauerschleife zu hören und alles Neue abzulehnen. Wir müssen uns nur sicher sein, ob wir diesen Moment des Übergangs akzeptieren oder ablehnen wollen. Ich stimme dir jedoch hinsichtlich der Katastrophe zu, die die Ideologie des „Life Coaching“ darstellt: Nichts Gutes kann entstehen, wenn persönliche, subjektive Lebenswege mit der Managementlogik kollidieren.
Charles: Idioten haben nicht auf das 21. Jahrhundert gewartet, um zu existieren. Das Problem liegt wahrscheinlich darin, dass manche Leute versuchen, diese Idiotie, diesen unproduktiven Teil des Gehirns, zu Geld zu machen. Wenn wir unser Recht akzeptieren würden, idiotisch zu sein, wären wir so glücklich.
Für mich ist der Song „Cadaverologie du Couple“ mit seinem hypnotischen Rhythmus und der fast schon aggressiven Aneinanderreihung von Absätzen eines der Highlights des Albums; der Text scheint von den psychischen Abgründen eines Beziehungsstreits zu handeln. Was für eine Geschichte spielt sich da ab?
Nicolai: Beziehungen sind eine Form des Wahnsinns, oder? Deshalb erfinden wir in der Gesellschaft Konzepte, die zwar eine gewisse Struktur bieten sollen, in Wirklichkeit aber nur zur Verwirrung beitragen – wie Liebe oder Freundschaft – und versuchen, alles durch die Macht der Bedeutung, der willkürlichen Bedeutung, zusammenzuhalten. Wenn diese imaginären Konstrukte also zusammenbrechen, können die Auswirkungen erheblich sein. Einige dieser Auswirkungen werden in diesem Lied poetisch beschrieben.
Als wie wesentlich würdet ihr das Artwork von Lysandre Cottret beschreiben, sind diese Porträts Teile einer Serie?
Nicolai: Lysandre Cottret ist eine Malerin aus Marseille. Ihre Malerei ist eine Mischung aus Realismus und der Einfachheit von Volltonfarben: Sie spielt mit Licht und Formen, um den Eindruck von im Raum schwebenden Körpern zu erwecken, als ob ihre Motive durch ihre Umgebung fragmentiert wären. Wir haben sie gebeten, das Cover für “Le Peintre du Soir” (ihr Selbstporträt) sowie die Cover unserer ersten beiden Singles (unsere eigenen Porträts) zu gestalten. Aus der Beschreibung, die ich hier gebe, wirst du dir problemlos vorstellen können, warum das Zusammentreffen unserer beiden Universen für uns Sinn ergab. Ihre Gemälde und insbesondere ihre Porträts sind eindringlich. Bitte seht euch hier ihr Instagram an: @lysandre.c
War L’EMPI für euch beide während der zwanzigjährigen Pause nie ein Thema? Oder gab es Zeiten, in denen ihr dachtet: „Wenn wir dieses Jahr ein Album machen würden, würde es so und so klingen“? Gibt es in eurer Fantasie Phantomalben?
Charles: Wir haben EMPI nur zweimal erwähnt: das erste Mal 2001 in einem öffentlichen Garten in Clermont-Ferrand, als die Gruppe tatsächlich gegründet wurde, und das zweite Mal 2022 in der Umgebung von Lyon, was der Ausgangspunkt unseres zweiten Albums war. In der Zwischenzeit wurde das Thema nie angesprochen. Wir haben lieber über andere Dinge gesprochen.
Nicolai: Nein, du hast perfekt zusammengefasst, wie sich die Dinge zwischen uns beiden in den letzten zwei Jahrzehnten entwickelt haben. Es gibt Dutzende seltsamer Geisteralben, die niemals aufgenommen werden, weil sie ehrlich gesagt unvernünftig sind.
Charles: Hör nicht auf ihn. Er lügt schamlos.
Wenn das nicht zu sehr vom Thema abweicht: Ist das Kapitel „Nick Grey and the Random Orchestra“ jetzt völlig abgeschlossen?
Nicolai: The Random Orchestra ist aufgelöst, ja, aber Nick Grey ist einfach mumifiziert. Und jeder weiß, was mit Mumien passieren kann. Oder vielleicht auch nicht. Schauen wir es uns auf Wikipedia an! Wir erfahren sofort etwas: „Die ersten lebenden Mumien in der Fiktion waren meist Frauen, die in einem romantischen und sexualisierten Licht dargestellt wurden, oft als romantisches Interesse des Protagonisten, was metaphorisch einen sexualisierten Orientalismus und eine koloniale Form der Romantisierung des Orients darstellen könnte.“ Nun, es stellt sich heraus, dass Nick Grey doch absolut keine Mumie ist. Nehmen wir diesen Mumienkram zurück, einverstanden? Sagen wir einfach, wir wissen nicht, was die Zukunft bringt. Ich kann Ihnen jedoch jetzt schon ankündigen, dass Ende 2024 der gesamte Nick Gray-Rückstand wieder in digitalem Format verfügbar sein wird, ebenso wie die gesamte 230 Divisadero-Diskographie, meine Arbeit mit Matthew Shaw. Jede CD wurde außerdem von Peter James remastered. Es war an der Zeit, diese Platten wieder verfügbar zu machen.
Ich bin nicht wirklich gut in Französisch, aber soweit die Titel (und auch der Bandname) es verraten, war das Interesse am menschlichen Körper, seinen Krankheiten und den manchmal seltsamen medizinischen Begriffen dafür ein Hauptschwerpunkt in den früheren Aufnahmen. Sind diese Motive einfach beim Interagieren entstanden oder gehen sie auf eine bestimmte Geschichte zurück?
Nicolai: Du musst Französisch lernen, alter Mann. Wir haben doch Deutsch gelernt! Schauen Sie mal rein: „Die Menschen haben sich nicht damit begonnen, das Komische zu genießen, wo sie im Erleben darauf stoßen, sondern danach gestrebt, es absichtlich herzustellen, und man erfährt mehr vom Wesen des Komischen, wenn man die Mittel studiert, welche zum Komischmachen dienen“.
Charles: Auch wenn ich mit den Songtexten nichts zu tun habe, verbindet mich dieses Interesse am Körper als Schnittstelle. Ich habe in meiner Jugend Cronenbergs frühe Filme studiert, in denen der Körper mit seinen Mutationen, Deformationen und Stigmata eine echte Obsession ist. Videodrome ist wirklich wunderbar.
Nicolai: Aber Sie haben Recht, wenn Sie den Körper als einen interessanten Punkt ansprechen, als eine Zone von Grenzen, Mäandern, Zwischenräumen und Funktionen, aber auch als einen Ort, an dem Subjektivität entstehen kann. Das obige Zitat von Freud ist sozusagen nicht vom Himmel gefallen. Und da die Rolle, die wir hier einnehmen, „künstlerisch“ ist – mit einer großen Prise Salz und den notwendigen „Anführungszeichen“ – und nicht medizinisch, ist unser Standpunkt nicht rein beschreibend. Wir schlurfen, wir schleichen, wir treten zur Seite.
Wenn ihr ein wichtiges verbindendes Element zwischen den beiden Alben nennen könnt, eine Brücke zwischen diesen zwanzig Jahren, welches würdet ihr beide nennen?
Nicolai: Uns.
Manche sagen, dass Bands am besten funktionieren, wenn ihre Mitglieder weniger gemeinsame Geschmäcker und Einflüsse haben. Wie ist das bei euch und welche Musikrichtungen stehen ihr heutzutage?
Charles: Wir haben einige gemeinsame Referenzen, aber wir hören sehr unterschiedliche Sachen. In den letzten Monaten war ich besessen von „No Decent Shoes for Rain“ von Dry Cleaning. Ich arbeite wirklich wie eine Obsession, ich höre bestimmte Songs und verschleiße sie bis auf die Knochen, wie „Pre Language“ von Disappears, das ich mir unterwegs hundertmal hintereinander anhören kann. Jedes Instrument spielt sein kleines Lied in seiner eigenen Ecke und bildet ein Ganzes, das ziemlich …
Nicolai: Entschuldige, ich muss kurz unterbrechen: Ich muss zu „Something Only We Know“ von Keane zurückkommen. Natürlich wird man mir sagen, dass es ein schreckliches, geradezu bedauerliches Lied ist, dass es hier kein Thema ist, dass es das einzige Lied ist, für das die Band Keane bekannt ist, und dass sich trotz dieses immensen Erfolgs heute außerhalb der Grenzen Englands fast niemand mehr an die Band Keane erinnert. Ich werde antworten, dass ich Ihnen einerseits zustimme, andererseits aber auch nicht. Vor ein paar Wochen aßen Charles und ich zusammen ein relativ scharfes asiatisches Gericht, und ich hatte plötzlich das unbändige Verlangen, dieses Lied zu hören, dieses Keane-Lied, von dem ich Ihnen hier erzähle. In diesem Augenblick, mit dem Mund voller Teriyaki-Sauce und den dazugehörigen Gewürzen, kann ich Ihnen versichern, dass dies das schönste Lied im ganzen Universum war, ein Lied, das den Moment der Melancholie perfekt einzufangen vermochte: Dieses Lied ist ein Zyklus, ein Fort-da-Spiel, das Sie daran erinnert, dass Sie alles, was Sie lieben, bereits verloren haben und daher dazu verdammt sind, es nur durch eine Reihe symbolischer Ersatzstoffe wiedererlangen zu können. Und natürlich rührt die Subtilität daher, dass der Inhalt des Liedes durchaus ein Geheimnis sein könnte (Etwas, das nur wir wissen: Was ist es? Was ist das Geheimnis?), seine Form ist nicht weniger bombastisch: Es ist ein herausgeschrienes und verkündetes Geheimnis. Ein Geheimnis, das in gewisser Weise offen zutage liegt. Abgesehen davon, um Ihnen zu antworten, glaube ich, dass die Mitglieder einer Gruppe in guter Harmonie leben können, wenn sie sich darin einig sind, dass Megadeth Metallica immer überlegen war.
Charles: Wir können nicht so kategorisch sein, wenn es um Gruppen geht, deren Diskographie so unterschiedlich ist. Natürlich bleibt Rust In Peace – insbesondere Holy Wars – eine Referenz, aber Master of Puppets ist hörbarer als einige schlechte Megadeth-Alben. Es ist daher angebracht, alle Elemente sorgfältig zu analysieren, bevor man so entschieden ist, auch wenn ich im Großen und Ganzen immer noch Ihre Meinung teile.
Nicolai: Megadeth mag uneinheitlich sein, aber Metallica ist und bleibt beständig mittelmäßig, und das schon immer. Außer vielleicht bei Lulu, ihrer einzigen guten Platte.
Apropos heute – würdet ihr sagen, dass L’Eglise nun endlich da ist, um zu bleiben? Was steht auf eurer Liste der Pläne für die nahe Zukunft?
Nicolai: Ich erzähle Ihnen eine Anekdote. Es war etwa 2007 oder 2008, also einige Jahre nach der Veröffentlichung unseres ersten Albums. Ich hatte einen Brief – einen echten Brief, per Post – von einem jungen Mann erhalten, der in einer psychiatrischen Klinik eingeliefert wurde. Dieser Brief begann folgendermaßen: „Da Ihnen die Eglise du Mouvement Péristaltique Inversé anscheinend egal ist, möchte ich Ihnen mitteilen, dass ich Ihre Kirche übernehme.“ Natürlich weiß ich nicht, ob dieses Projekt abgeschlossen wurde und ob es tatsächlich eine Eglise du Mouvement Péristaltique Inversé parallel zu unserer gibt, die noch mehr im Untergrund angesiedelt ist und nur ihrem Schöpfer bekannt ist, aber dieser Brief hebt meiner Meinung nach zwei Dinge hervor. Erstens die Fähigkeit der künstlerischen Funktion, als Vermittler zu dienen: Zwischen diesem jungen Mann und uns konnte etwas passieren, zunächst über eine künstlerische Schnittstelle, dann über einen einfachen Brief, ein „Kommuniqué“. Und dann noch etwas: Damals existierte die Kirche der umgekehrten Peristaltik für mich nur noch als Erinnerung, als Spur der Vergangenheit, als gemeinsame Erfahrung mit ein paar Freunden. Aber manche Erinnerungen haben eine überraschende Vitalität, die es ihnen ermöglicht, nicht in der Gruft des Vergessens zu landen: So blieb die Erinnerung an die Kirche der umgekehrten Peristaltik immer nicht weit von der Oberfläche entfernt und wurde regelmäßig durch eine Erinnerung an den Alltag wiederbelebt – wie diesen Brief. Und um Ihre Frage abschließend zu beantworten: Ja, dieses Mal sind wir hier, um zu bleiben. Vielen herzlichen Dank für das Interview!
Charles: Das ist ein toller Abschluss. Unser zweites Album Le Peintre du Soir ist gerade erschienen und eine Vinyl-Version wird Ende 2024 erhältlich sein. 2025 wird weitere Überraschungen bereithalten, die bereits geplant sind. Wir werden sie nach und nach bekannt geben.
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Fotos: Michel Lange, Cover: Lysandre Cottret
Interview: U.S.