Es mag angesichts der ökonomischen wie gesellschaftlichen Verwerfungen, die die Coronakrise ausgelöst hat, vielleicht etwas geschmacklos wirken, wenn man darauf hinweist, dass dadurch zum ersten Mal Depeche Modes üblicher Vierjahresrhythmus von neuem Album,Tour und anschließender Pause unterbrochen wurde. Dass „Memento Mori“ nach dem Tode Andrew Fletchers zudem das erste Album als Duo werden würde, war zu Beginn der Arbeiten an den Songs und am Konzept noch nicht klar.
Wir hatten hier schon bei der Besprechung von „Delta Machines“ thematisiert, dass trotz Stadionkonzerten und etwa 100 Millionen verkaufter Platten die Band sich den Nimbus der Kultband, der Außenseiter, beibehalten konnte – worauf jüngst noch ebenfalls der britische Guardian hinwies. Die New York Times skizzierte, wie Depeche Mode in den USA mit ihren „misfit anthems“ über die Jahre verschiedenste Subkulturen anzog.
Als vor ein paar Monaten die Tracklist des Albums geleakt wurde, dachten einige Fans, es handele sich um einen Fake, da die Titel scheinbar allzu sehr auf bekannte Stücke zu verweisen schienen („Don’t Say You Love Me“, „People Are Good“, „Never Let Me Go“, „Speak To Me“). Dabei handelte es sich tatsächlich um die Songs auf „Memento Mori“ – ein Album, das zwar durchaus bewusst auf die Vergangenheit anspielt – sowohl textlich als auch musikalisch – , allerdings erstaunlicherweise ohne dass das Album ein banaler Nostalgietrip wird oder aber derivativ klingt: In der gegenwärtigen Rezeption besteht weitgehend Konsens darüber, dass „Momento Mori“ das beste Album seit dem vor 18 Jahren erschienenen „Playing The Angel“ ist.
Das Album beginnt mit „My Cosmos Is Mine“ (und man muss bei der Titelgebung fast unweigerlich an „World In My Eyes“ oder „Welcome To My World“ denken), auf dem Gahan fordert: „Don’t play with my world/Don’t mess with my mind“ und Gore „No war, no war“ intoniert. Dies ließe sich âuf den ersten Blick als Anknüpfung an die (allzu) explizit politischen Aussagen auf „Spirit“ lesen, aber in seiner Ambivalenz ist es auch zu verstehen als Absage an die Dauerbeschallung durch in den Medien kolportierte Horrorszenarien, sozusagen als Wunsch nach Eskapismus aus einer aus den Fugen geratenen Welt. Gore war sicher auch immer dann gut, wenn er sich weniger mit Politischem als mit Privatem beschäftigte und seine häufig von Schuld- und Sühne-Metaphorik durchzogenen Texte, die auch schon einmal durchaus biblische Anklänge haben durften, sich um Beziehungen in all ihren Facetten drehten. Auf „Construction Time Again“, auf dem Depeche Mode 1983 extensiv Kritik an Umweltzerstörung etc. äußerten, findet man nach all den Jahrzehnten immer noch musikalisch viel Aufregendes, textlich allerdings einiges, was vielleicht gut gemeint war, aber ganz sicher nicht gut klang. Kurz gefasst: „Gore’s say-what-you-see lyrics are always best on the essentials of life – sex and death“. Der Opener kommt dann fast ohne Beats aus und enthält einige irritierende Sounds, ist im positivsten Sinne sperrig. Nachdem Gahan sich vor etlichen Jahren seinen kleinen Platz als Songschreiber im Bandgefüge erkämpft hat, ist „Wagging Tongue“ erst der zweite Song, den er gemeinsam mit Gore geschrieben hat (der erste, „Long Time Lie“, versteckte sich bei den Bonustracks von „Delta Machine“) und beginnt mit verspielten Synthtönen. „Ghosts Again“ war die vorab veröffentlichte Single, die eher versucht an die poppige Seite der Band anzuknüpfen, die sich in Singles wie „Enjoy The Silence“ oder „Precious“ widerspiegelt und weniger an rabiatere Tracks wie „Barrel Of A Gun“ oder „I Feel You“, die in der Vergangenheit Alben ankündigten. Im wie üblich von Anton Corbijn gefilmten Video wird – dem Thema des Albums entsprechend – an Bergmans „Das siebte Siegel“ angespielt, wenngleich vielleicht ästhetischer weniger originell als bei der Hieronymous Bosch-Hommage auf „Walking In My Shoes“.
„Don’t Say You Love Me“, das erste von vier Stücken, das Gore mit Richard Butler von The Psychedelic Furs geschrieben hat, erinnert mit seinen Streicherpassagen und Gahan als Crooner an die frühen Soloalben Scott Walkers, wie Gahan zugibt. „My Favourite Stranger“ kombiniert eine fuzzy Gitarre mit einer Drummaschine, die die Band auch bei ihrem Auftritt im Londoner Bridgehouse 1980hätte verwenden können und zeigt textlich die ganze Abgründigkeit, die im Homo sapiens steckt: „My favourite stranger/Stands where I stand/leaves crime in my wake/And blood on my hands“.
Diesmal singt Gore nur ein Stück: „Soul With Me“, auf dem der Abschied von der irdischen Hülle besungen wird: „I’m going where there are no cares“. „Caroline’s Monkey“ lässt mit seiner Drogenmetaphorik an Gahans eigenen Substanzabusus denken, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte. „Before We Drown“ beginnt mit verspielten Synthsounds. Auf „People are Good“, ein Verweis auf den Song, der für viele wohl das Einstiegserlebnis war, wird an Kraftwerk angespielt. Das ist sicher als bewusste Hommage an die Band zu verstehen, ohne die es Depeche Mode vielleicht nie gegeben hätte, und die im Gegensatz zu den aus Basildon stammenden Briten sich leider nur noch als Nachlassverwalter des eigenen Werks betätigt. Auf dem Song hört man die wenig subtile, aber dennoch nicht unwahre Aussage: „Whisper it under your breath/People are good/Keep fooling yourself“. Offenbar hat ein Rezensent einer anderen Publikation nur den Titel gelesen, anders hätte er kaum auf die Idee kommen können, der Text sei positiv zu verstehen. „Always You“, mit Gahans beeindruckendem Gesang und Synthflächen, die an die 80er denken lassen, ist ein Liebeslied, bei dem der Adressierten inmitten des herrschenden Wahnsinns quasi göttliche Attribute zugeschrieben werden (“Your grace and holiness are endless”). „Never Let Me Go“ ist mit verzerrter Gitarre und verhältnismäßig treibenden Beats eine potentielle nächste Single. Schließlich als Abschluss „Speak To Me“, eine von Gahan mit Livedrummer Christian Eigner, Produzenten John Ford und Marta Sologni, die das Album abgemischt hat, geschriebene Ballade. Mit den Worten „I’m found“ endet das Album, die man auch auf die Band beziehen könnte, denn „Memento Mori“ zeigt, dass nach Jahren von eher mediokren Alben sich die Band (neu) gefunden hat. Man verzichtet auf die teils missratenen Stadionklopper, die vereinzelt auf den Alben der letzten Jahre zu finden waren und bewegt sich stattdessen fast durchgängig im Midtempobereich, um ein stimmungsvolles, atmosphärisches Album einzuspielen: „We will be beacons/Shining so bright“ (MG)
Label: Columbia