Bekannt vorkommen wird der Bandname L’Eglise du Mouvement Péristaltique Inversé hierzulande wahrscheinlich wenigen, denn eine zuverlässige Erinnerung ist ein rares Gut, und wirklich angekommen ist das einzige bereits 2002 erschienene Album des französischen Cold Wave-Duos diesseits des Rheins kaum. Für mehr als zwei Jahrzehnte gingen die beiden Mitglieder Charles Pietri (Gitarre) und Nick Grey (Gesang und alles elektronische) musikalisch getrennte Wege, und wer unsere Seiten schon ein paar Jahre liest, hat bei letzterem Namen natürlich ein unmittelbares Déjà-vu und erinnert sich an zwei beeindruckende Alben seines mittlerweile auf Eis gelegten Random Orchestra, über das wir ausführlich mit dem Sänger und Musiker sprachen.
Im vergangenen Jahr jedenfalls beschlossen Grey und Pietri, deren Kontakt wohl nie ganz eingerissen ist, das alte Duo, dessen Name Die Kirche des umgekehrten Verdauungsvorgangs heißt und – Zwinkersmiley – ein interessantes alchemistisches Konzept vermuten lässt, bei dem Nahrung statt Gold das Ziel der Arbeit ist, wiederzubeleben. Dass dies eine lohnenswerte Idee war, bezeugt das gerade erschienene Album “Le Peintre du Soir”, das den Cold Wave-Rahmen merklich sprengt und vor kreativen Details geradezu übersprudelt.
Das eröffnende “Alexandre”, das vor einiger Zeit bereits als Single veröffentlicht wurde, bezeichnete ich in einer Ankündigung als “die Quadratur des Kreises einer kraftvollen Kopfhänger-Ballade im Midempo zwischen Cold Wave und dunklem Rock, dessen nur leicht melodisch angehauchte Spoken Words einen nokturnalen Thriller entstehen lassen, bei dessen dunklen bewegten Bildern nie vollends klar wird, ob es sich vielleicht um einen Trickfilm handelt”. Ein gewisses Spannungsverhältnis aus einer kraftvoll griffigen Soundmaterialität (inklusive des Gesangs) und einer fragilen, mitunter erschöpft wirkenden Melancholie in unterschiedlichen Graden der Deutlichkeit zieht sich durch viele Momente des Albums, ebenso und fast noch deutlicher eine (vermutlich auch dann, wenn man im Unterschied zum Rezensenten mehr von der einzigen verwendeten Sprache, dem Französischen versteht) niemals ganz aufgelöste Ambiguität hinsichtlich der Frage, wie ernst die mal wehmütigen, mal dramatischen Stimmungsbilder gemeint sind, und wie viel davon auch schalkhafte, “dadaistisch” eingefärbte Ironie sein mag.
Etwas anrührendes und zugleich auch rollenspielhaft ironisches transportiert “Le Bleu du Ciel”, dessen melancholische Synthies und knapp abgemessene Downtempotakte einer Drummachine einen mit Kopfstimme vorgetragenen Text tragen, vergleichbar etwa der aufgesetzten Fistelstimme in einigen Songs von Novy Svets “Into Your Skies”. Dem Titel nach vermutlich durch Georges Batailles gleichnamigen Roman inspiriert, entspricht der Text, soweit mein minimales Französisch mich nicht im Stich lässt, auch der “mal traumhaften, mal realitätsnahen Erkundung des Spektrums menschlicher Emotionen”, von denen im Begleittext die Rede ist. Nicht nur dieser Song, der sich wunderbar in einem epischen Film während einer Autofahrt machen würde, könnte von seiner Stimmung her aus den frühen 80ern stammen. “Triptyques de Monarques Assis” beispielsweise klingt mit der entrückten Melodie seiner Synthietupfer und dem untergründigen Basswummern wie das Echo einer tränennassen Neondisko. In diesem Szenario dringt eine eindringliche, ernsthafte Rezitation an den vorderen Bühnenrand und reklamiert alle Aufmerksamkeit für seine bedeutsam anmutende Geschichte, während im Hintergrund allerhand kleine Details wechseln und sogar ein paar Gitarrentwangs das Ganze für Sekunden in einen amerikanischen Roadmovie verwandeln.
“Cloaque et Empire” klingt, als hätten Suicides “Ghostrider” und Throbbing Gristles “United” ein Baby gezeugt und es anschließend radioaktiven Strahlen ausgesetzt. Hält man diesen Song, in dem Grey, eigentlich mit einer soliden Tenorstimme ausgestattet, wie ein Brummbär Schimpfwörter zum besten gibt, für den Höhepunkt des Albums, so wird man von den folgenden Stücken nochmal eines Besseren belehrt. Das garantiert auf Freuds Totem und Tabu anspielende “Totem et Tas Mou” ist trotz der irgendwann einsetzenden rauen E-Gitarre, die dem Ganzen einen Touch der Velvets gibt, der poppigste Song das Albums und mit Nicks virtuosem Crooning irgendwo zwischen Chanson und einem radiotauglichen Pop der 80er vielleicht das einzige Liebeslied der Eglise. “Cadaverologie du Couple” dagegen präsentiert das Duo von seiner kraftvollsten Seite und hätte mit seinen über elf Minuten Spieldauer eine EP für sich allein reklamieren können: Vor der Kulisse hypnotisch federnder Takte und repetitiver, an den Nerven zerrender Riffs kämpft sich Nick wie ein in allen Stimmungsnuancen versiererter Theatermacher durch eine dramatische Abfolge von Paragrafen, mit denen ein anscheinend psychopathisches Paar im Text seine Trennung vollzieht. Gerade hier würde ein besserer Einblick in die sprachliche Seite sicher noch einiges zutragen, aber letztlich funktioniert der Song auch so. Den versöhnlich klingenden Abspann, den das skurril betitelte “Rapport Eschatologique d’un Weekend de Life Coaching en Haute Montagne” mit seinen Glöckchen und den semi-orchestralen Synthies und Gitarrentwangs bildet, haben sich Band und Hörer nach so viel Drama durchweg verdient.
Auch wenn “Le Peintre du Soir” durchaus so etwas wie die Frische eines Debüts hat, erscheint es nach mehrmaligem Hören doch gerade aufgrund seines Reichtums an Ideen und auch Referenzen als ein reifes Werk, das regelrecht danach geschrien haben muss, in die Welt gesetzt zu werden. Fast wirkt es, als fänden hier einige Stationen der französischen Kultur- und Geistesgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, die irgendwann an den Klischees ihrer selbsternannten Apostel niedergegangen sind – die mal surrealistisch, mal strukturalistisch eingefärbten Gesellschaftsbetrachtungen von Bataille bis Althusser (dem Würger von Paris), der anarchischen und gleichsam katholisch eingefärbten Freudrezeption Lacan’scher Prägung, der sensiblen Beziehungsanalysen in Filmen, die nicht immer so geschwätzig sein müssen wie die Eric Rohmers, und natürlich eine speziell französische Ausprägung von Pop und Wave – ihre furiose, durchaus mahnende Wiedergeburt im lachhaften Zeitalter vom TikTok, Persönlichkeitscoaching und sonstiger Pseudospiritualität.
Natürlich wirkt es abgedroschen, wenn man nun seiner Hoffnung Ausdruck gibt, dass bis zum dritten Album etwas weniger Zeit verstreichen möge, doch angesichts einer solch mitreißenden Musik darf man als Rezensent gerne auch abgedroschen sein. (U.S.)
Label: Les Disques de l’Empire