Das nach der leichtfüßigen Atalante, deren Name viele wahrscheinlich schon assoziativ in der Welt der antiken Mythen verorten, benannte neue Album von Camerata Mediolanense beginnt mit einem Kracher: Schon die lateinischen Verse, mit denen Sängerin Desiree Corapi das Werk in einem hellen und zugleich kraftvollen Sopran in hymnenhaftem Ton eröffnet, bündelt trotz Molltonart und einer liturgischen Melodieführung eine wache, forsche Energie, in die sich die anderen Sängerinnen Carmen D’Onofrio und Chiara Rolando, die donnernden Pauken und die orchestrale Elektronik scheinbar wie von selbst einfügen und eine Stimmung entstehen lassen, die in den leisen Tönen des Vorgängers “Le Vergini Folli” nur latent zu spüren war, die aber auf dynamischen Klassikern der Gruppe von “Musica Reservata” bis “Vertute, Honor, Bellezza” zumindest musikalisch bestens gepasst hätte. Es handelt sich bei dem eröffneten Stück um den Song “Embryo Ventosa”, der bereits seit Jahren auf Konzerten gespielt wird und schnell zu einem heimlichen Lieblingsstück vieler Fans wurde.
Der Text des Stücks und aller folgenden Stücke auf der Platte entstammt einem bedeutenden alchemistischen Werk des frühen 17. Jahrhunderts aus der Feder des deutschen Arztes, Dichters und Okkultisten Michael Maier, das ebenfalls den Titel Atalanta Fugiens trägt – ein bedeutendes emblematisches (heute würde man auch sagen multimediales) Werk, das in fünfzig Kapiteln zahlreiche Aspekte der Alchemie und der spirituellen Suche erörtert und dabei Poesie, philosophische Reflexion, Illustrationen des Schweizer Kupferstechers Matthäus Merian und musikalische Partituren, bei denen wohl der englische Madrigalkomponist John Farmer einflussreich war, zusammenbringt. Über die Inhalte der fünfzig Embleme findet sich allerhand Differenziertes auf Papier und im Netz, die Versöhnung und Vermählung von Gegensätzen, aber auch die Wichtigkeit der Vermeidung von Extremen, die sich als Hindernisse auf dem alchemistischen Weg erweisen können, sind wichtige und wiederkehrende Motive und sollen hier als einzige exemplarisch genannt werden.
Der Atalante-Mythos, der in den Metamorphosen Ovids wahrscheinlich seine bekannteste Überlieferung erhalten hat, ist dem Ganzen als kurze Parabel vorangestellt. In dieser wird die mythische Heldin als eine sportliche und etwas asketisch wirkende Jägerin und Läuferin vorgestellt, die aufgrund ihrer Schönheit zahlreiche Verehrer hatte, sich aber der Ehe verweigern wollte. Ihre zahlreichen Verehrer forderte sie zu einem Wettlauf heraus – gewinnt der Anwärter, gehört ihm ihre Hand, gewinnt sie, musste der Verehrer sein Leben lassen. Nur Hippomenes, der weder unambitioniert war, noch allzu obsessiv an seinem Ziel hing, schaffte es, sie mit einem Trick zu überlisten. Auch hier geht es also um die Vermeidung von Extremen und so etwas wie einen goldenen Mittelweg, wie ihn in der abendländischen Philosophie unter anderem Aristoteles in seiner Nikomarischen Ethik propagierte.
Im Unterschied zu vielen bisher bekannten Vertonungen des Stoffs, die sich mehr oder weniger an die Partituren aus dem Buch gehalten haben, entschieden sich Camerata Mediolanense bzw deren Komponistin und Songschreiberin Elena Previdi für ein musikalisch eigenständiges Werk, das bis auf den abschließenden Track, der tatsächlich eine originalgetreue Umsetzung ist, auf Eigenkompositionen setzt, die die musikalischen Ideen des Werks sicher als Inspirationsquelle nutzten, ansonsten aber den Stoff der zehn hier ausgewählten Embleme auf eigene Art umsetzt.
“Embryo Ventosa” erzählt die Geschichte von der Geburt des Schwefels, das zur Entstehungszeit des Buches gerade erst entdeckt wurde. In Maiers Lyrik wird das Element als Embryo beschrieben, der im Schoß des Boreas, des mächtigen Nordwindes heranwächst und aufgrund seiner Giftigkeit und Explosivität nicht nur ein enormes Potenzial, sondern auch gewaltige Risiken in sich birgt. Diese Ambiguität lässt sich bei genauerem Hinhören auch in dem Stück erkennen, das neben seiner mitreißenden Wucht, die sich v.a. nach mehreren ruhigen Passagen mit Carmens Sologesang offenbart, nicht nur subtile unterschwellige Dissonanzen transportiert, sondern auch eine zwiespältige Hypnotik. Diese wird noch deutlicher in dem Videoclip von Luca Rossato, in dem v.a. die trommelnden Recken Manuel Aroldi, Marco Colombo, Trevor Ameisi und Giancarlo Vighi etwas gewollt Zombifiziertes ausstrahlen. Dennoch wirk das Stück aus der Totalen betrachtet versöhnlich, und man muss derartige Vermählungen von Gegensätzlichem in den folgenden Stücken nicht lange suchen. “Rosetum”, das mit Trommelwirbeln beginnt, sich dann aber als eher schleppendes Mittempostück mit cinematischen Streicherpassagen entpuppt, offenbart eine exzentrisch anmutende Dramatik. Chiara eröffnet den Italienisch und Latein kombinierenden Gesangsteil mit einer ergriffen-ergreifenden Rezitation, in die sich nach und nach die anderen Stimmen einklinken. Zu Beginn von “Rupa Cava” könnte man meinen, die Melodie des Windembryos zu erkennen, doch das ist nur eine kurze Fata Morgana, aus der sich ein von folkigen Glocken und zischelnden Becken getragener Ritualsound schält. Carmens Stimme, die in anderen Stücken fast wie eine Fackel leuchtet, wird hier wie aus einem anderen Raum ins Zentrum des Gesdhehens geweht, die anderen – auch männliche – Stimmen kommen hinzu. Der Bariton der männlichen Sänger hat seinen großen, proklamatorischen Moment in “Corallus”, das mit seinen martialischen Pauken, die an ein Standgericht erinnern, und seinem reißerischen Verlauf die monumentalsten Momente des Albums entstehen lässt.
Um den Schwefel dreht sich auch der Hintergrund des Stücks “Hermaphroditus”, das gewissermaßen eine Fortstetzung von “Embryo Ventosa” und ein weiteres Highlight des Albums ist. Hier wird aus dem Sulfur und Quecksilber– stellvertretend für andere Gegensätze wie Sonne und Mond, heiß und kalt, Blut und Milch, Gold und Silber und letztlich dem männlichen und dem weiblichen – ein göttliches Zwitterwesen geschaffen, das symbolisch für die Überwindung des Konfliktes zwischen Delirium und Vernunft im alchemischen Prozess steht. Hinter den Acapellagesang, mit dem Desiree das Stück feierlich einleitet, schiebt sich der Klang eines im Camerata-Kosmos schon bekannten Cembalos, das irgendwann sein Tempo und seine Stoßrichtung findet und zum Hintergrund wunderbar miteinander verschmelzender weiblicher und männlicher Gesänge wird. In dem schunkeligen Walzertakt verbirgt sich dabei bis zum Ende etwas trunken eruptives, das an frühere Stücke wie “Mi vuoi” erinnert, und das hier später noch einmal in dem thematisch verwandten “Mercurius” wiederkehrt. In diesem kommt in dem Arrangement aus Streichern, Akkordeon, einem schnell gespielten Cembalo und zum Teil verstellten Stimmen ein populärmusikalisches Element hinzu, ich könnte mir den Song wunderbar in einer Version mit Marc Almond und Ernesto Tomasini vorstellen.
“Viktor quadrupedum”, das in einem kurzen Interludium mythologische Szenen wie in einem symbolistischen Panorama an einem vorbeiziehen lässt, und “Arpir” in welchem eine von einer Kinderstimme gelesene Rezitation von marschierenden Paukenrhythmen vorangetragen wird, repräsentieren die soundscapige Seite des Albums. Vor dem harmonischen Zusammenspiel der Gegensätze in Form der verschiedenen Stimmen in “Alta Venonosa”, das das Album ganz im Geiste von Maiers eigenen Ideen zum Abschluss bringt, stehen in “Draco”, das einer der Ourobouros-Gestalten des Bandes gewidmet ist, noch einmal die rauen und dystopischen Töne im Zentrum des Geschehens. Ein verrauscht-noisiger Unterton unter der spannungsgeladenen Perkussion lässt apokalyptischen Szenen entstehen wie man sie aus älteren Nummern wie “Balcani in Fiamme” kennt, und wenn später Trillerpfeifen und deklamatorische Shouts dazukommen erinnert man sich etwas deutlicher, dass die schöngeistige, ornamentale Seite der Gruppe immer nur eine Seite ihrer in der Hinsicht janusköpfigen Musik gewesen ist.
Mit “Atalanta Fugiens” ist Camerata Mediolanense ein “esoterisches” Konzeptalbum gelungen, wie es Elijah’s Mantle in ihren innovativsten Tagen nicht besser gekonnt hätten, und das zusammen mit dem von Mirco Magnani kuratierten “Magnum Opus Collectio Series” für eine gewachsenen Interesse an der Alchemie eventuell im italienischen Kulturraum stehen könnte. Die inhaltlichen Aspekte und ihre Umsetzung sollten Ideengeschichtler – am besten jenseits einer Kulturwissenschaft, die seit Jahrzehnten die immergleiche Konstrukthaftigkeit in allem sucht – beurteilen. Musikalisch kann man das Album nur als erstklassige Arbeit betrachten und als Beweis, dass es bisweilen ein paar Jahre dauern muss, bis ein solches vollendet ist. (U.S.)
Label: Auerbach Tonträger / Prophecy Productions