Etwas Schwebendes liegt über den Liedern, als würden sie sich nur für einen Moment greifen lassen, bevor sie wieder zurück ins Unbestimmte gleiten. Genau dieses Changieren zwischen Vertrautem und Rätselhaftem prägt “Mote”, das neue Album von Avi C. Engel. Trotz der Reduktion auf Stimme und akustische Gitarre entspricht das Album dabei nur bedingt den gängigen Vorstellungen eines Singer Songwriter-Folk, vielmehr entfalten die Songs eine flächige, beinahe ambiente Qualität und offenbaren gleichsam organische Wärme und surreale Entrückung.
Schon das eröffnende “Nyx” gibt den Ton vor: zarte Gitarrenpickings, die wie ornamentale Fragezeichen in der Luft stehen und sich in dieser wieder auflösen, getragen von Engels sofort erkennbarer Stimme, somnambul und traumverloren. Später tritt ein hochtönendes, fast geisterhaftes Streicherinstrument hinzu – die Gudok, eine alte russische Bogenlaute. “Anything Might Happen” wirkt tastender und zugleich vitaler, fast wie ein kleiner Groove, in dem Textzeilen wie “I can’t” oder “anything might happen” den schillernden, schwer zu fassenden Charakter des Songs unterstreichen.
In “Rip Van Winkle” taucht ein historisches Motiv auf: die Figur aus Washington Irvings Erzählung, die nach zwanzig Jahren Schlaf in einer veränderten Welt erwacht. Engel greift die Idee des Übergangs zwischen Bewusstseinszuständen auf, zwischen Traum und Realität, begleitet von geerdeten, leicht tränendurchtränkten Streicherklängen. Noch geheimnisvoller wirkt “The Night is Old”, in dem die Gitarre fast barock anklingt und Tsinder Ash mit Klarinette und Gesang zu einem eindringlichen Duett beiträgt. Dunkler wird es mit “Ogre’s Banquet”, wo unterschwellige Gitarren und Melodica-Flächen (von Brad Deschamps, einem weiteren musikalischen Gast) eine schleichende Bedrohung andeuten. Die Lyrics beschwören die Selbstwahrnehmung als dem mythologischen Unhold Oger herauf – furchteinflößend und verletzlich zugleich. Der Titeltrack “Mote” wirkt dagegen beinahe wie ein Wiegenlied, gleichförmig und repetitiv, mit den leisen Gitarren von Liz Dimo, die dem Song eine zusätzliche Zartheit verleihen.
“Tinderbox” entfaltet mit sanftem Picking, subtiler Percussion und wieder der Gudok eine Atmosphäre zwischen pastoraler Ruhe und morbiden Untertönen. Den Abschluss bildet “Luz”, in dem Engels Stimme so klar und zentral hervortritt wie nirgendwo sonst auf dem Album. Das Motiv des Lichts – “a flask of light from the world before” – beschließt den traumwandlerischen Zyklus, der mit dem Einbruch der Nacht begonnen hatte.
So ergibt sich ein Werk, das von strömendem Gesang, lieblichen Gitarren und der besonderen Klangfarbe der Gudok getragen wird. Viele Stücke erinnern an Tagträumereien eines Kindes, das am Abend noch wach liegt und seinen Fantasien nachhängt, bevor es in den Schlaf hinübergleitet. “Mote” hält diesen Schwebezustand fest zwischen Traum, Erinnerung und einer Welt, die sich immer wieder neu verwandelt.
Foto: Tanja Tiziana
Label: Fenny Compton