Interessanterweise hat dem Schweizer Performance- und Electronica-Kollektiv BLACK SUN PRODUCTIONS der Vergleich mit renommierten Idolen nie wirklich etwas ausgemacht. Warum ist dies so? Vielleicht weil Gruppen, die ausgerechnet der wandlungsfähigen Musik von COIL mit ihren komplexen Themen derart konsequent nacheifern, rar gesät sind. Immerhin haftet dem Konzept von Massimo, Pierce und ihren Gästen, die sich seit dem Coil-Remix-Projekt „Plastic Spider Thing“ (ESKATON 2002) offiziell als Groupies outeten, schon deshalb etwas Originelles an. Vielleicht auch, weil sie selbst nie einen Hehl aus ihrem Fansein gemacht haben und zudem immer auch selbstironisch mit ihrer Abhängigkeit umzugehen wussten. Slogans wie „Our biggest Dream: being Coil“ und Textzeilen wie „A Black Sun Rose From A Leather Couch“ fallen sofort ins Auge und lassen ihren Enthusiasmus sympathisch wirken.
Vielleicht auch, weil den beiden von Beginn an eine auffallend große Akzeptanz aus dem Dunstkreis ihrer „großen Brüder“ entgegen gebracht wurde, viel mehr noch als etwa von Hörerseite. Vielleicht zuguterletzt, weil trotz der vordergründigen Ähnlichkeit auch eigenständiges Potenzial in ihren Arbeiten und ihrem Auftreten steckt, das die beiden von Jhonn Balance und Peter Christopherson unterscheidet und somit zusätzlich interessant macht. Da mag man nun zuerst an ein paar Skandale rund um ihren Zürcher Fetisch-Club denken, oder an bestimmte Aspekte des Artworks. BSP hatten aber auch von Anfang an einen viel größeren intermedialen Schwerpunkt, was ihre Klassifizierung als Gesamtkunstwerk rechtfertigt.
Ein Versiegen ihrer Kreativität scheint jedenfalls auch nach Jahren nicht in Sicht, und wer weiß, vielleicht schaffen die beiden ja tatsächlich einmal das, was nur wenigen Fan-Combos gelingt, nämlich ohne Unabhängigkeitskämpfe und große Stilwechsel nach und nach aus dem Schatten ihrer Idole heraus zu wachsen und die jahrelang aufgenommenen Einflüsse in einen eigenen originellen Stil zu transformieren. Über die mittlerweile schon beachtliche Bandgeschichte kann man sich u.a. in einer rund drei Jahre alten NONPOP-Rezension informieren – dort erfährt man auch etwas über die vielen künstlerischen Zusammenarbeiten der Gruppe. Zu den vielen Gästen im Line-Up der Band zählt auch die umtriebige englische Transgender-Künstlerin VAL DENHAM alias Princess Valhalla alias Silverstar Amoeba, deren Rolle bei der neuesten Veröffentlichung so zentral ist, dass eine gleichberechtigte Kollaboration dabei heraus gekommen ist. Weitere Beitragende sind die beiden italienischen Projekte BAHNTIER und TESTING VAULT, deren Rolle aber vergleichsweise marginal ist. Der wichtigste Aspekt von Denhams kreativem Output betrifft gleich eine wesentliche Gemeinsamkeit zu BSP, nämlich die schon angesprochene intermediale Ausrichtung, womit in ihrem Fall eine kreative Doppelexistenz als Musikerin und Malerin gemeint ist. Musikalisch bewegt sich Denham seit den späten 70ern in einem Feld zwischen Tape-Musik und Rock, das sie mit einer eigenwillig autodidaktischen Do it Yourself-Mentalität beackert. Meist mit Unterstützung ihres langjährigen Freundes OLAV „OLI“ NOVADNAIEK kreiert sie mit alten Instrumenten und einem bescheidenen Aufnahme-Equipment Werke von rauem Charme und besticht mit einer originellen Stimme. Und auch wenn ich nicht immer ein Freund von Vergleichen bin, die einen Künstler als „Mischung“ aus X und Y bezeichnen, so würde ich eine Verortung von Denhams Gesang im Grenzbereich zwischen MICK JAGGER, JOHN LYDON, GAVIN FRIDAY und GENESIS P-ORRIDGE nicht von der Hand weisen. Schrill, androgyn und ein bisschen „quäkig“? Ja, aber im besten Wortsinne. Im Laufe der Jahre trat sie im Zusammenhang unterschiedlicher Szenekünstler in Erscheinung, von denen mit THROBBING GRISTLE, PSYCHIC TV, den NEUBAUTEN und THE HAFLER TRIO nur die bekanntesten genannt sein sollen. Auch als Malerin hat sie sich einen Namen gemacht. Neben einigen Arbeiten mit direktem Bezug zur Musik (Plattencovers beispielsweise für MARC AND THE MAMBAS, Sängerporträts von BALANCE, FRIDAY, ALMOND, TIBET und zuletzt ANTONY), kombiniert sie in ihrem restlichen Werk gekonnt Qualitäten vermeintlich gegensätzlicher Richtungen wie Pop- und Outsider-Art, vereint cartooneske Elemente mit idyllischen Landschaftssujets und kindlich wirkender Folklore. Auf einer Stufe mit Malern wie RAY CESAR oder dem genialen TRAVIS LOUIE ist sie eine wichtige Vertreterin der „New Weirdness“ unseres bald zurückliegenden Jahrzehnts.
Die gerade bei TOURETTE erschienene Zusammenarbeit zwischen Denham und den Schweizern trägt den Titel „Somewhere Between Desire And Despair“ – eine Phrase, die schon auf den ambivalenten Charakter der hier evozierten Stimmung verweist. Sie erinnert daran, dass jedem Verlangen ein Mangel zugrunde liegt, der bisweilen als schmerzhaft empfunden werden kann. Im besten Fall durchsetzt er das Begehren selbst mit einer Spur Bitterkeit, die es zu einem spannungsgeladenen Erlebnis macht. Der im Netz kundige Hörer könnte das Werk fälschlicherweise für eine Wiederveröffentlichung halten, da Val vor einigen Jahren eine ultralimitierte LP namens „Somewhere In Between Desire And Despair“ herausbrachte, die ich nie zu hören bekam. Abgesehen von ein paar bereits live eingespielten Songs ist das hier vorliegende Material allerdings neu, was den wohl leitmotivischen Status der anklingenden Thematik nahe legt. Dreiundzwanzig leidenschaftliche Fans haben (vielleicht noch) die Gelegenheit, über das Label eine aufwendige Box-Edition zu ergattern, bei der neben der regulären CD noch eine signierte Postkarte, jeweils individuelles Artwork und eine CD-ROM mit einem exklusiven Experimentalstück zu finden ist, welches selbstverständlich dreiundzwanzig Minuten lang ist. Als Intro fungiert eine im resoluten Tonfall rezitierte Passage aus CHARLES DICKENS’ Historienroman „A Tale Of Two Cities“, die das Zeitalter der Aufklärung samt seinen dunklen Seiten wiedererstehen lässt. Das später immer wieder aufgegriffene Thema geschlechtlicher Zwänge als Folge überzogenen Normdenkens macht unmissverständlich deutlich, dass die in dem Zitat geäußerte Rationalismuskritik nicht als Stimme aus der Vergangenheit zu verstehen ist. Die Musik ist hier auf einen Flächensound reduziert, der eine Frauenstimme und bedrohliches Brummen in einem Drone verschmelzen lässt, das mit der Zeit recht laut wird und klar werden lässt, dass dies kein Auftakt zu einer Ambientplatte ist. Der erste richtige Song „Cobald Blue“ gibt dann die Richtung vor für den Sound der Platte: Eine Basis aus nassem Gluckern und metallischem Klicken bildet den Teppich für einen sehr geradlinig pulsierenden Beat, der eine hypnotische Wirkung auf den Hörer zu entfalten weiß. Bei diesem Song hört man nur beim Ausklang kurz die Stimme Denhams, ansonsten übernehmen Massimo und Pierce selbst den Gesangspart. Das sorgt für Abwechslung, fällt aber hinter das Charisma der Sängerin zurück und verdeutlicht, dass die stimmlichen Fähigkeiten generell nicht die stärkste Seite der Band darstellen. Klingt „Cobald Blue“ noch recht aufgeräumt, so ist das nachfolgende „Stars“ schon komplexer aufgebaut und beinahe housig. Glamourös, wie es der Titel verlangt, und mit einer gewissen Forschheit beim Gesang weckt dieser Song dann traditionsgemäß COIL-Assoziationen, hier speziell zu der verspielt acidlastigen Phase um „Love’s Secret Domain“. Erfreulicherweise verlieren sich diese Eindrücke aber mit der Zeit, vielleicht weil Denhams Gesang so prägend ist und dem Ganzen einen eigenständigen Klang und Charakter verleiht. Später gibt es auch erhabenere, von Pathos durchdrungene Momente – wenn man will kann man darin bei entsprechendem Vorverständnis wieder eine Brücke zum Frühwerk der Engländer sehen, dem Massimo und Pierce ja bekanntlich besonders zugetan sind.
Während „When In Danger“ darauf wartet, von einem zwanzigjährigen MARC ALMOND gecovert zu werden, bildet die glamrockig angehauchte Nummer „Eat Us Mother!“ einen ersten Höhepunkt des Albums. Unglaublich hypnotisch ist das Stück so mitreißend, dass gegen Ende die Scheiben bersten. Bei diesem Song, dessen Lyrics wie die meisten aus der Feder Denhams stammen, hat auch der besagte Novadnaiek einen Gastauftritt als Gitarrist. Das nicht weniger beeindruckende „Absinth“ bildet einen Kontrapunkt dazu: Ein seltsam pumpender Basslauf, merkwürdig verwehte Bläser und ein leicht verstimmt wirkendes Klavier lassen den Song, der den Absinthrausch im fortgeschrittenen Stadium beschreibt, so deformiert wirken wie das eigene Spiegelbild auf einem Silberlöffel oder einem Rohr aus glänzendem Metall. Was könnte eine schon leicht ins Verkaterte übergehende Trunkenheit am Ende einer langen Nacht besser zum Ausdruck bringen? Eine Mundharmonika lässt am Ende das Lied vom Tod erklingen und verleiht dem Ganzen einen Hauch von Fatalismus, voller Größe, aber auch voller Humor – schließlich geht es ja „nur” um die grüne Fee. Diese selbst trägt das Gesicht der Stummfilmdiva LOUISE BROOKS und ziert als stolze Allegorie aus Denhams eigenem Malpinsel das ansehnliche Digipack. Dabei macht sie jedoch überraschenderweise einen wenig dionysischen Eindruck. Als Verursacherin des im Song so anschaulich demonstrierten Rausches könnten ihre selbstsichere Pose, ihr asketischer Blick und alle weiteren Aspekte einer Girls-Erotik der Roaring Twenties kaum weiter von der zerfließenden Stimme im Lied entfernt sein. Im Vollbesitz aller Verführungskraft bleibt sie dennoch unnahbar.
Nach derart verschlungenen Zusammenhängen des Begehrens, bei denen lacaninfizierten Kunstnerds eigentlich das Wasser im Mund zusammen laufen müsste, ist mein dritter Anspieltipp von schlichterer und direkterer Natur: Das schon vor zwei Jahren live eingespielte Kabarett-Stück „I Try To Kill The Man“ zelebriert auf gewollt plakative Art den Exorzismus jeglicher Männlichkeit aus dem Bewusstsein dessen, der sich im falschen Körper wähnt. Ein wahrer Ohrwurm und Tanzbodenfüller, keineswegs tiefschürfend, aber grundehrlich. Es gibt weitere Songs, die sich mit Fragen der Gender-Ambiguität befassen, wobei das Fehlen theorielastiger Didaktik angenehm auffällt. Das schließt implizite Positionierung natürlich nicht aus: Wenn in dem von Spoken Words geprägten „Flowers In The Trenches“, das von den Schützengräben des Ersten Weltkrieges handelt, dem Klischee des feigen fahnenflüchtigen Soldaten mit der Frage entgegnet wird, ob es sich vielleicht um Frauen in Männerkörpern gehandelt hat, wird deutlich, dass geschlechtliche Identität in Denhams Welt gerade aufgrund ihrer Fragilität von enormer Wichtigkeit ist und nichts per se Schädliches darstellt. Ohne diesen Bereich wirklich zu überblicken habe ich den Eindruck, dass viele Werke zu diesem Thema, die sich in der Tradition postmoderner Theorien sehen, eher das Gegenteil propagieren und darauf hinweisen, dass die Unterschiede zwischen Mann und Frau zu vernachlässigen seien. Val Denham dagegen erzählt in ihren Songs die Geschichte von Männern, die ganz entschieden Frau sein wollen. Natürlich kann man einräumen, dass das alles längst nicht mehr neu ist und dass man damit heute bestenfalls auf einem gemütlichen Kirchenbasar noch provozieren kann. Dies dem Album anzukreiden würde aber für ein Missverständnis des Konzeptes sprechen, denn die Songs erwecken gar nicht den Eindruck, unbedingt innovativ und besonders provokant sein zu wollen. Die Stücke scheinen sehr persönlich gefärbt zu sein und setzen die Transgender-Thematik als etwas Selbstverständliches in Szene, das mit dem Flair des Weimarer Kabarett und alter Burleskfilme beinahe klassisch wirkt. In dieser Selbstverständlichkeit sehe ich die eigentliche Originalität, zumal darin auch eine Alternative zur oft etwas angestrengt wirkenden Indie-Attitüde angesagter Queerstars zu erkennen ist, mögen sie nun GOSSIP heißen oder auch DEVENDRA BANHART.
Musikalisch sticht des weiteren ein campiger Chanson mit Banjo und MARLENE DIETRICH-Sample hervor, sowie ein Ambienttrack mit dezent eingesetztem Barpiano, bei dessen Keyboardteppich mir erst auffällt, dass mir BSP bei so viel Augenmerk auf Val Denham fast ein wenig abhanden gekommen sind. Da stellt sich nun die Frage, ob sie das verdient haben. Wohl eher nicht, zumindest spricht das mit der Zeit eher unterschwellige Wahrnehmen ihrer Sounds für die Kongenialität dieser Zusammenarbeit, bei der die vordergründige Rolle der Sängerin eindeutig zum Konzept gehört. Auch beim Bandporträt auf dem Cover stehen Massimo und Pierce ja bezeichnenderweise ein Stück hinter ihr. Schon aufgrund dieser Rollenverteilung ist „Somewhere Between Desire And Despair“ auch eine Aufnahme geworden, bei der man den Coil-Vergleich weniger in den Mittelpunkt stellen muss – wäre zu hoffen, dass BSP das in Zukunft auch im Alleingang etwas mehr anstreben und damit für die eine oder andere Überraschung sorgen werden. Insgesamt ist das Werk eine schöne Sammlung bizarrer Songs irgendwo zwischen 90er-Jahre-Electronica und ironisch gebrochenem Revue-Sound, bei der mir nur frei nach einer den Zylinder zum Gruße ziehenden Val Denham „Dankeschön, merci!“ zu sagen bleibt.
(U.S.)