In den letzten Jahren ist das Wort “Ritual” in einschlägigen Musikszenen seltener gefallen. Allgemein ist man sich einig, dass die genrebildenden Werke in den 80ern und frühen 90ern aufgenommen wurden – in einer Zeit, als die Idee, durch repetitive Musik und geheimnisvolle Symbole Türen in unerforschte Räume der Psyche zu öffnen, noch unverbraucht war. Ain Soph mit ihren frühen Aufnahmen sollten eine der ersten Referenzen sein, natürlich auch die berühmte Bonusplatte zum Erstling von Psychic TV. Ebenso die frühen Hybryds, die das Ganze in modern-urbane Zusammenhänge stellten, oder die Live-Dokumentationen von Zero Kama und die an der Musik Tibets orientierten Raksha Mancham. Dass die Musik solcher Gruppen bei oberflächlicher Rezeption auch einfach als reizvoller Spuk funktioniert und obendrein formal oft leicht zu spielen ist, machte sie für die unterschiedlichsten Nachzügler interessant. Freilich gab es immer noch interessante Neulinge (C.O.T.A., um nur ein Beispiel zu nennen) und eine immer größer werdende Grauzone rituell “angehauchter” Musik. Es traten aber auch eine Menge Trittbrettfahrer auf den Plan.
Nach einer Phase, die größtenteils von kreativer Belanglosigkeit geprägt war, setzte der Witch House-Boom der letzten Jahre mit seiner bewusst pseudo-okkulten Attitüde einen ironischen Schlusskommentar zum Niedergang mystisch okkulter Undergroundmusik – ich erwähne das hier aus zwei Gründen: Zum einen ist mit dem Debüt des deutschen Projektes Atzmann Zoubar ein Album erschienen, das eine neue Zeit ernsthafter ritueller Musik einleiten könnte. Zum anderen ist der eröffnende Titelsong selbst, ob gewollt oder nicht, von einem chillwavigen Vibe durchzogen. Begleitet von geheimnissvollen Rasseln macht sich ein verhalltes Ambientdrone im Raum breit und bildet das Fundament für eine demonstrativ heruntergepitchte Flüsterstimme, wohl die von K.Makiri selbst, dem Nukleus des von zahlreichen Gästen geprägten Projektes. Sie erzählt von dem mythenumwobenen Galgenmännlein, einer halb menschlichen, halb knollenartigen Kreatur, die der Sage nach aus dem Schoß der Erde entsprungen ist, nachdem sie den letzten Samen eines Gehenkten in sich aufgenommen hat. Botanisch handelt es sich dabei um ein Nachtschattengewächs, das spätestens seit dem Altertum als Heilpflanze verwendet wurde, und dem in mehreren Kulturen Zauberkräfte nachgesagt werden. „Aut Sperma In Terram Effundit“ ist ein vielschichtig durchdachtes Konzeptalbum, das sich dem Mythos dieser auch als Alraune oder Mandragora bekannten Figur widmet, die in der Literatur als gnomartiger Finsterling oder auch als schöne Frau auftritt. In seiner thematischen Stimmigkeit steht das Album bisher allein da. Verbindet der Eröffnungstrack urtümliche Kauzigkeit mit Trockeneis-Spuk, so entpuppt sich „The Magic Root“ als ein mehrfach in Fetzen gerissenes Stück Psychedelik. Es dröhnt in den verschiedensten Klangfarben, und was sich etwas organischer anhört, entpuppt sich nach und nach als Sitar. Weiblicher Gesang leitet über zum beinahe orchestralen „Main de Gloire“. In Hanns Heinz Ewers berühmtem Roman wird die mädchenhafte Alraune zum Inbegriff der dämonischen Verführerin, und keine Stelle des Albums unterstreicht dies so deutlich wie das laszive Flüstern der französischen Sängerin.
Schon nach der ersten Hälfte wird deutlich, dass Atzmann Zoubar etwas gelungen ist, für das rituelle Musik nicht gerade berühmt ist: Jedes Stück auf dem Album hat seinen eigenen Charakter, seine eigenen Stimmungen, Rhythmen und Klangfarben. Dies ist nicht nur den zahlreichen Gastmusikern zu danken, die sich an jeweils einem Song beteiligen – der Künstler hat sich viel Zeit gelassen und die Aufnahmen über einen Zeitraum von fünf Jahren langsam heranreifen lassen. Abgesehen von dem eher zurückhaltenden „Una Planta Que Sonba“ befinden sich die markantesten Stücke eher in der zweiten Hälfte. Hervor sticht „Menschenwurz“, bei dem das improvisierte Spiel des bekannten Geigers Matt Howden (Sieben) und der schwermütige Gesang der russischen Sängerin Berkana in einem turbulenten Klangstrudel durcheinander geworfen werden – Momente, in denen Makiris Erfahrung mit Harsh Noise zur Geltung kommt, die er mit seinem älteren Projekt Tarsus machen konnte. Seine Vorstellung von ritueller Musik jedenfalls ist weit entfernt von jeglichem Ethnokitsch für Chillout-Bedürfnisse. Ebenso hervorstechend „Rotes Gold und junge Liebe“, das mit Beiträgen aus den Gefilden von C.O.T.A. und Shava Sadhana für die folkloristische Seite des Albums steht. Eine Art Koda bildet das letzte Stück, bei dem das Zusammenspiel von Didgeridoo, Maultrommel und Stonergitarren ebenso überzeugt wie der kraftvolle „Mandragora“-Chorgesang. Atzmann könnte eine gute Liveband sein (…und wer sie verpasst könnte Makiri stattdessen als Statist im Film “Iron Sky” sehen) – die dominaten Vocals klingen mir jedoch zu sehr nach Mittelaltermarkt und wollen mir nicht so recht zum Rest dazu passen.
Atzmann Zoubar steht in einer ganzen Reihe von literarischen und musikalischen Traditionen. Neben den oben genannten Klassikern des Ritual Industrial gibt es Künstler, die sich mit Pflanzenmagie und Phytoritualistik befasst haben. Projekte wie Alraune und Waldteufel sind bekannt, ebenso fantastische (und sträflichst unterrepräsentierte) Folkalben wie das konzeptuell offenere „Mandragora“ von Orchis oder das ethnobotanische „Mycorrhizae Realm“ der im Umfeld von Greg Weeks groß gewordenen Fursaxa. Makiris Debüt macht keinen Hehl daraus, in solchen schon bestehenden Kontexten zu stehen, doch innerhalb dieses Rahmens einen ganz eigenen Stil zu bearbeiten, ist ihm mehr als gelungen. „Aut Sperma In Terram Effundit“ wird neben der Standardversion auch als limitiertes Boxset mit zahlreichen Extras erscheinen, welches ausschließlich beim Label erhältlich sein wird. (U.S.)
Label: Binturong Music