In meiner Rezension zu „The Ape of Naples“, die gleichzeitig (auch) eine Art Nachruf auf Jhonn Balance war, schrieb ich, dass Trauer oftmals etwas Egoistisches ist, man darüber betrübt sei, nicht mehr in den Genuss weiterer künstlerischer Werke der Verstorbenen zu kommen. Dabei wurde das 2005 bekannt gegebene Ende Coils durch die postumen Veröffentlichungen verzögert. Nach Sleazys Ableben hat das alles nun eine endgültige, eine finale Note und man sucht verzweifelt nach noch ungehörten und unerhörten Stücken.
Als Coil 1998 den Reigen der Equinox/Solstice Singles begannen, die später als „Moon’s Milk (In Four Phases)“ auf einer Doppel-CD zusammengefasst wurden, war das für viele nach den Experimenten unter anderen Namen (ElpH, Black Light District, The Eskaton) eine Rückkehr zu alter Form, leiteten diese vier Singles doch die produktive Spätphase der Band ein, die für viele zur stärksten der Bandgeschichte zählt. Die teilweise improvisierten Stücke bekamen durch William Breezes E-Geige einen organischeren Klang, und das Korsett des Zyklischen gab Coil den äußeren Zwang, den sie scheinbar brauchten. David Keenan nannte das Ergebnis in „England’s Hidden Reverse“ etwas umständlich „a weird Anglo-American polyglot of traditional folk and contemporary avant theory“. Dies wie auch die magisch-okkulten (Unter)Töne mögen Nicolas Roeg dazu bewogen haben, sich dieses musikalischen Materials extensiv für den Soundtrack seines ziemlich holprig inszenierten Films „Puffball“ zu bedienen.
2002 veröffentlichten Sleazy und Balance einen mit Hilfe des inzwischen zur Band gestoßenen Thighpaulsandra (ohne den die Neu(er)findung als Liveband wahrscheinlich nicht möglich gewesen wäre) aufgenommenen weiteren Teil auf handgestalteten CD-Rs. Die drei darauf enthaltenen Tracks knüpften atmosphärisch durchaus an den Ursprungszyklus an, wobei durch das Fehlen von William Breezes E-Geige die musikalische Ausrichtung etwas anders war, auch das die CD-R abschließende Instrumental „Ü Pel (Intense Offering)“, das wahrscheinlich hauptsächlich von Thighpaulsandra eingespielt wurde, erinnert eher an die Synthie-Space-Tracks („Red Birds…“, „Tiny Golden Books“), die sich auf den beiden Teilen von „Musick to Play in the Dark“ fanden, als an die Musik der ersten vier Singles.
Die letzten Jahre hatten gezeigt, dass Sleazy sich nach seinem Umzug nach Thailand sowohl solo (als Threshold HouseBoys Choir) als auch mit Ivan Pavlov (als SoiSong) wesentlich weniger mit dem beschäftigte, was bei Coil als dunkel wahrgenommen wurde – die „vibrant rays of spiritual psychosis“ lagen weitgehend in der Vergangenheit; ein Stück auf der Amulettedition des THHBC mit dem Titel „Be Happy“ dürfte paradigmatisch für diese neue und lichtere Version seiner Visionen gewesen sein. Dies schlägt sich zum Teil auch auf den um 2006 entstandenen und jetzt unter dem Namen Electric Sewer Age veröffentlichten Stücken nieder, die mit dem langjährigen Tonmann Danny Hyde entstanden sind und ursprünglich einer erweiterten Neuauflage von „Moon’s Milk“ beiliegen sollten. „Moon’s Milk (Waxing)“ lässt sowohl Einflüsse von THHBC und SoiSong erkennen (die Ethno-Elemente, die nach Xylophon klingende Instrumentierung, die leicht verzerrten Bläsersätze) als auch von rhythmischeren Coil-Tracks. Insgesamt klingt das Stück in meinen Ohren allerdings atmosphärisch weniger dicht als die stärksten Stücke von Sleazys Coilnachfolgeprojekt(en), auch wenn – oder gerade weil – im Verlaufe des Tracks immer wieder weitere Sounds hinzugefügt werden. „Moon’s Milk (Waning)“ ist von der Stimmung wesentlich (be)drückender, es wird völlig auf die rhythmischen Momente des Openers verzichtet und der Track nähert sich dem Ambient: Eine verfremdete Stimme scheint inmitten der Klangschichten auf- und abzuschwellen. Das erinnert etwas an Sleazys Solobeitrag zu Throbbing Gristles „Part Two: The Endless Not“ mit dem doppeldeutigen Titel „After the Fall“. Nimmt man „Moon’s Milk“-Aufnahmen als Referenzpunkt, erinnert es vielleicht noch am ehesten an „The Coppice Meat“, der Vertonung eines Angus MacLise-Texts, die auf der 2002 veröffentlichten Bonus-CD enthalten war. Das ist beileibe kein schlechtes Stück, aber natürlich war ein Merkmal der ursprünglichen Tracks, dass endlich wieder Balances Stimme zum Einsatz kam, insofern ist allein schon durch ihre Abwesenheit ein Vakuum da, das nur bedingt gefüllt werden kann. „Moon’s Milk (Eternal Phase)“ knüpft wieder an den Anfang an, verbindet leichte Ethnomomente mit rhythmischen Elementen und ein paar flirrenden Sounds, die man auch bei einigen Liveaufnahmen Coils hören konnte. Als nicht genannter Track findet sich ein 2004 entstandenes Stück, das laut Hyde „Therebealiensoutthere“ heißt und zu dem Balance ursprünglich Gesang beisteuern wollte. Der Track erinnert durch seine vertrackten Rhythmen stark an Hydes Arbeit mit Coil Mitte der 90er und an seine Soloarbeiten als Aural Rage. Stimmungsmäßig ist das (sehr) weit von den restlichen Tracks entfernt (es erinnert noch am ehesten an „Fire of the Green Dragon“ von „The New Backwards“) und man kann sich fragen, warum man das nicht auf eine separate Veröffentlichung gepackt hat.
Insgesamt also eine etwas durchwachsene EP, die qualitativ deutlich von den anderen Teilen abfällt, gleichzeitig aber auch Momente aufleuchten lässt, die einem bewusst machen, wie sehr Coil fehlen. Auf „In Final Phase“ wird sicher kein „astrales Feuer“ („A Warning From the Sun“) entfacht, aber es ist beileibe auch kein „vergifteter Kelch“ („Rosa Decidua“). Vielleicht könnte man als Fazit die folgenden ambivalenten Zeilen aus „A White Rainbow“ zitieren, um das zu beschreiben, was die Hörer vielleicht empfinden mögen: „Laughing like skeletons clattering at midday“
(M.G.)
Label: Divine Frequency
Bestellen bei Danny Hyde