Es gibt verschiedene Arten, als Filmemacher von heute auf den italienischen Giallo zu referieren, und in den wenigsten Versuchen wird sich zugleich auf die typischen Genremotive als auch auf Aspekte des Plots, der visuellen Sprache und der hervorgerufenen Atmosphäre bezogen. Gemessen daran, wie stark diese heute allgemein verkultete Form des stilisierten Thrillers im Italien der 60er und 70er Jahre verwurzelt ist, ist das auch ganz gut so. „Amer“, der vor drei Jahren unter der Regie des Paares Hèléne Cattet und Bruno Forzani in belgisch-französischer Koproduktion entstanden und seit kurzem auch in Deutschland auf DVD und Blu Ray erhältlich ist, gilt derzeit als einer der besten „Meta-Gialli“ und ist definitiv eher der ästhetischen Form bekannter Werke verpflichtet. In der Hinsicht ist er nicht nur äußerst gelungen, er setzt auch neue Akzente.
Anders als der klassische Giallo ist „Amer“ kein Whodunnit, bei dem ein ästhetisch perfekt arrangierter Mord am Anfang des Geschehens steht und ein eher unbeteiligter Zaungast, gerne beruflich Journalist oder Künstler, ins Geschehen gezogen wird und am Ende gleich nolens volens zur Enthüllung der Zusammenhänge beiträgt. Eine solche Story plus finaler Rückblende, allseits bekannt aus Filmen wie Antonionis „Blow-up“ (in vielfacher Hinsicht Prä- und Anti-Giallo zugleich), gilt als konstitutiv für derartiges Genrekino, weswegen auch ein Film wie „Die purpurnen Flüsse“ partiell in der Tradition des knalligen Italo-Schockers verortet wird. Eine inhaltliche Gemeinsamkeit, wenngleich eher allgemeiner Natur, ist der psychoanalytische Subtext von „Amer“, den man als stark auf das subjektive Erleben seiner Protagonistin bezogenes Coming of Age-Drama bezeichnen kann. Es erzählt auf drei linear aufeinander folgenden Zeitebenen die Geschichte von Ana, die in bewusst gewählter Erzählökonomie auf ihre Rolle als Tochter und begehrendes Subjekt einer äußerst heiklen Sexualität reduziert wird. Die drei Handlungsebenen, zwischen denen jeweils ein Zeitabschnitt von etwa zehn Jahren liegt, haben alle ihre eigene experimentelle Bildsprache und ihre typische Stimmung. Dass Ana jeweils von einer anderen Darstellerin verkörpert wird, unterstreicht die Vorstellung, dass die drei Teile relativ isolierte Lebensabschnitte präsentieren, in denen Ana anscheinend nicht mehr viel von ihrem früheren Selbst weiß.
Der erste Teil des Triptychons erinnert an die in den 60ern und 70ern ebenso populären Gothic Horror-Filme, die neben Spukhäusern und Familienflüchen mit einem ganzen Repertoire an katholischen Kultrequisiten aufwarten. Partiell gilt das natürlich auch für Dario Argentos „Suspiria“ (1977), dessen Licht- und Farbdramaturgie hier ebenso Referenz erwiesen wird wie der des frühen Mario Bava. In diesem vorpubertären Kindheitsuniversum spielt sich die Urszene von Anas psychosexueller Pathochronologie ab: Ein schwächlicher Vater und eine zänkisch und manipulativ auftretende Mutter; eine verschleierte Gouvernante, die als religiös konnotiertes Über-Ich fungiert – beinahe fühlt man sich an die Familie in Arrabals „Viva la Muerte“ (1970) erinnert. Die bedrückende Stimmung und das dominante Schwarz rühren daher, dass es sich um ein Trauerhaus handelt, in dem der Leichnam des verstorbenen Großvaters aufgebahrt liegt, ständig wiederkehrende Close-ups auf tote Tiere unterstreichen dies auf symbolischer Ebene. Die kindliche Neugier der Protagonistin und ihr unbefangener Umgang mit dem Tod führen jedoch zu einer derben moralischen Zurechtweisung, die für das Kind kaum nachvollziehbar erscheint. Doch macht Ana hier nicht nur ihre erste verstörende Begegnung mit dem Tod, sondern auch mit der Sexualität. In der für die Szenenfolge typischen Schematisiertheit ertappt sie just in dieser Nacht ihre Eltern beim angestrengten Liebesakt. In ihrer Wahrnehmung verschmelzen beide Erlebnisse zusammen mit irrealen Farben und unerklärlichen Geräuschen zu einem einzigen surrealen Szenario aus Angst und verinnerlichter Selbstbestrafung.
Für den Zuschauer sind die beiden folgenden Abschnitte natürlich stark auf diese Exposition bezogen. Im ebenso handlungsarmen wie atmosphärischen Mittelteil gerät die adoleszente Ana, die vom Styling her ebenso in einen vierzig Jahre alten Thriller wie in einen ARTE-Fim von heute passen würde, in einen Strudel aus Eros und Thanatos. In der besonders langsam gedrehten Eingangsszene des Abschnitts erfolgt ein Close-up auf eine Ameise, die auf Anas Haut umherirrt – in dem Moment, in dem Ana sie fast versehentlich mit ihrer Hand zerdrückt und ihre Innereien über ihre Haut schmiert, korrespondiert dies nicht nur mit den vielen (animalischen) Todessymbolen des ersten Teils, es zeigt Ana auch erstmals als nicht nur passiv erleidende Figur. Dennoch hat auch dieser Teil aufgrund seiner unscharfen Bilder und der teilweise unberechenbaren Kameraführung etwas Traumartiges. Klimax ist der Moment, in dem Ana die Blicke einer phalanxartig aufgereihten Rockergang bannt und und die Männer zeitgleich zu Objekten ihres eigenen Blicks macht. Wie zuvor die erste Begegnung mit der Sexualität an sich wird erst recht die Entdeckung der eigenen erotischen Macht durch die Reaktion der Mutter geahndet.
Der endgültige Ausbruch verdrängter Pathologie erfolgt im dritten Teil, der dann auch – nach einer extrem sexualisierten Taxifahrt – die eigentliche Giallo-Bildwelt hereinbrechen lässt. Werden sich nun sämtliche düsteren Kindheitsahnungen erfüllen? Großartige Einstellungen in der damals üblichen Symbolsprache (Ana öffnet Fenster und Türen in Räume von expressionistischer Düsternis oder irrt von Morricone-Musik untermalt durch einen verwilderten Garten) schaffen direkte Referenzen und stellen Anas Erinnerung dar – bis es zu einem finalen Identitätswechsel kommt, der an Argentos „Stendhal Syndrom“ erinnert.
Die vielen Referenzen (man nannte „Amer“ bereits den „Kill Bill“ des Giallo) sind schon deshalb mehr als nerdiges Versteckspiel, weil die Zitate (Einstellungen aus „Suspiria“, die hypnotisierende Musik von Bruno Nicolai aus Sergio Martinos „Der Schwanz des Skorpions“) stets kunst- und sinnvoll in den narrativen und (audio)visuellen Gesamtrahmen integriert sind, der aufgrund seiner ausschnitthaften Gestalt wesentlich experimenteller ausfällt als jeder gängige italienische Genrefilm (und die deutlichste Verbeugung findet sich ohnehin im Bonusmaterial, das eine Reihe an Kurzfilmen des Paares enthält, die ausschließlich nachinszenierte Giallo-Morde zum Thema haben). Hommage an eine Kinoära mit all ihrer holzschnittartigen Psychologie ist “Amer” dennoch. Das aufklärerische Anliegen solcher Filme und ihre implizite Kritik an Verdrängung hat heute auch primär als solche Relevanz, da unsere Zeit längst eigene, vielleicht subtilere Fassaden hervorgebracht hat. Die ästhetische Umsetzung all dessen strahlt jedoch trotz all der morbiden Sexualisiertheit eine farbenfrohe Naivität aus, die als Projektionsfläche und Wunschbild nicht totzukriegen ist. (T.M., U.S.)
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