LITTLE ANNIE AND BABY DEE: State of Grace

Man muss sich wundern, dass eine Zusammenarbeit zwischen Little Annie und Baby Dee erst jetzt zustandegekommen ist, denn thematisch-musikalische Parallelen zwischen dem Werk der zwei Künstlerinnen sind unübersehbar: Die Charaktere, die die Songs beider schon seit Jahren bevölkern, zeichnen sich oft auch immer durch ihre Exzentrik und durch ihre Beschädigungen aus, und auch eine teilweise anarchische Komik spielt in den Songs und insbesondere bei den Auftritten der beiden keine geringe Rolle. Annie und Dee wären sicher auch bei Vaudevilles nicht fehl am Platz gewesen.

Auf “State of Grace” liegt der stimmliche Fokus ganz klar bei Annie, Dee zeichnet sich vor allem durch die großartige musikalische Untermalung am (schon für ihr Album “Regifted Light” von Andrew WK zur Verfügung gestellten) Steinway-Klavier und an der Hammondorgel aus.  Der Titel des Albums spielt wahrscheinlich an gleichnamigen im New Yorker Bezirk Hell’s Kitchen angesiedelten Film an, wodurch schon die Richtung vorgegeben wird: Annies Torch Songs, ihre Chansons, die sie mit ihrer von unzähligen Zigaretten und anderen Substanzen geprägten Stimme vorträgt, versetzen den Hörer auf die Straße, in die Bronx, auch in verr(a)uchte Jazzkneipen,  in denen versehrte Figuren zu finden sind. Oder um den ersten Song „Angels Gone Before“ zu zitieren: „Little Liza was a looker/moved down town to fashion model/Got tuned out/Became a hooker“; der Abstieg der Besungenen endet schließlich im Grab, im gewaltsamen Tod und die Schlussfolgerung „Fame’s such a fickle drug“ sollte man all denen auf die Stirn tätowieren, die sich allabendlich auf verschiedensten Kanälen der Lächerlichkeit preisgeben, um einen letztlich noch kürzeren Augenblick des Ruhms zu erhaschen, als Andy Warhol noch zugestanden hätte. Schlüpft Annie in dem auf „Angels Gone Before“ entwickelten Szenario in „suburbs just north of despair“, voller Mädchen mit „bitter sneers“, und Schönheiten „past their sell-by dates“, die sich „with weary wombs“ des einen guten Jahrs in ihrem Leben erinnern, in die Rolle der Femme Fatale, die das alles mit der Souveränität (und Distanz) derjenigen vorträgt, die schon alles erlebt, alles gesehen hat, so ist das darauf folgende „Love to Break the Fall“ von ganz anderer Stimmung, denn die (emotionale) Distanz schwindet: Aus der Beobachtenden wird die (im Spiegel) Beobachtete. Das Gesicht, das einen im Spiegel anblickt, das nach einer Spur von sich selbst abgesucht wird, ist nur noch „an illusion now ravaged by time […] avoiding the now of this nuclear winter“ und es folgt das Eingeständnis: „I’m terrified, paralyzed“. Dennoch: Ganz ohne Hoffnung ist man nicht, denn: „The creator has a marvellous plan“ (man vergleiche auch Annies Äußerungen zur Spiritualität in dem Interview, das wir mit ihr machten). Das Titelstück trägt sie im Duett mit Will Oldham vor und es ist bezeichnend, wie viel „erlebter“ Annies Stimme im direkten Vergleich mit Bonny „Prince“ Billy ist, der schließlich nicht gerade für seinen glasklaren Gesang bekannt ist. Das Stück klingt in einem Gewitter aus Schlagzeug und Saxophon aus. Das Zusammenspiel von Dees Hammondorgel und Chris Cundys Saxophonspiel leitet das beschwingte „Pilgrim Traveller“ ein, das wohl nicht zufällig von der 1976 verstorbenen Blues- und Gospelsängerin Wynona Carr stammt und die vielleicht eine ähnliche “Stehauf-Mentalität” besaß wie Annie.

Hatte Annie mit dem momentan am Dortmunder Schauspielhaus arbeitenden Paul Wallfisch zusammen ein beeindruckendes Coveralbum aufgenommen, auf dem u.a. Tina Turners „Private Dancer“ zu neuen Ehren kam, so interpretiert sie auf “State of Grace” als zweiten fremden Song Stevie Wonders „I Never Dreamed You’d Leave in Summer“ neu, ein todtrauriges Stück, bei dem das dezente Klavierspiel Dees und die von Jordan Hunt arrangierten Streicher Annies Stimme untermalen. Hier schlüpft sie in die Rolle einer Trauernden, die am Ende die Frage stellt, die (sich) vielleicht schon jeder einmal gestellt hat: „Why didn’t you stay?“. Auf dieses emotional berührende Stück folgt mit „Paincheck“ einer der besten Songs des Albums: Die Ausgangssituation ist erneut wenig erfreulich, in ihrer metaphorischen Übertreibung allerdings zu ertragen: „Welcome to our toxic swimming pool/The life guard is a sadist/But the water’s warm as blood“. Der einsetzende Shantyhafte Rhythmus passt zur Rolle, in der man „older but no wiser“ ist und das durchaus zelebriert: „I would have gone to hell with you/If you had only asked me to“. Es ist auch einer der wenigen Tracks, auf der Dees Stimme nicht nur im Hintergrund zu hören ist, sondern teilweise die Aussagen kommentiert. Als erneuter Kontrast dazu folgt mit dem adäquat betitelten „Gown of Tears“ eine Nummer, auf der Rückschau gehalten wird, der vergehende und vergangene Ruhm reflektiert wird: „See now how I glow under the spotlight/In my shiny sequined gown of un-cried tears/Behind the pain the pathos and bravado/So much of me that has disappeared“. Die Betrachtung des Vergangenen fällt auf dem dann folgenden „Back in the Day“ aber weniger melancholisch aus, es wird die Arroganz der Jugend besungen, eine Zeit in der man dachte: „the world started and ended with us“. Fast gegen Ende interpretiert Dee das Titelstück und hört man, wie intensiv sie Zeilen wie “We gotta get out of this place/blow this busted city/And find a state of grace” intoniert, wünscht man sich, ihre Stimme hätte noch mehr Raum auf dem Album eingenommen. Abgeschlossen wird das Album von „Perfect Gift“, einem erneut traurigen Stück, das mit den Zeilen „Yes, I’ve the perfect shade of lipstick/Draped in fabric precious/Enveloped in the finest leather/Locked in a special chamber/A vault/which once//Held my/Heart“ das Album angemessen abschließt.

Das einzige, was man gegen das Album einwenden kann, ist, dass es (natürlich!) nicht die Dynamik widerspiegeln kann, die entsteht, wenn die beiden in einem Livekontext (inter)agieren – denn auf eine Bühne gehören sie, wie exemplarisch der unten verlinkte Ausschnitt aus ihrem letzten Auftritt in Dortmund zeigt.

M.G.

Label: Tin Angel

Little Annie

Baby Dee